18. Jahrgang | Nummer 10 | 11. Mai 2015

Amerika!

von Wolfgang Brauer

Am 15. März 1526 unterzeichneten drei Männer in einem panamaischen Dschungelkaff eine Urkunde, in der sie festlegten, dass sie das Recht hätten, das Reich Peru zu entdecken, zu unterwerfen und zu völlig gleichen Teilen aufzuteilen. Zwei von ihnen konnten noch nicht einmal den eigenen Namen schreiben und mussten andere bemühen, dies für sie zu tun. Und ausgerechnet diese gingen als „große Conquistadoren“ in die Geschichte ein: „Wir befinden uns in einem Schlachthaus. Almagro treibt uns, das Vieh, hinein, Pizarro schlachtet es.“ Der Soldat Sarabia schreibt diese Klage in einem Brief nieder, den Fray Celso Gargia in seinem Tagebuch, das die Zerstörung des Reiches der Sonnenkönige beschreibt, wiedergibt. Die Rede ist von Francisco Pizarro und Diego de Almagro. Der dritte im Räuberbunde war ein gewisser Fernando de Luque. Ein Priester, der für die Finanzierung und die Erteilung der höheren Weihen des Ganovenstückes gebraucht wurde. Sarabia notierte dies allerdings sechseinhalb Jahre vor dem Blutbad von Cajamarca, das das Ende des Reiches der Inka, eines Reiches „in hoher Blüte“, wie Gargia immer wieder bemerkt, einleitete – eines Reiches, in dem die Spanier „nirgendwo Hunger oder Not“ antrafen.
Die Zerschlagung der Macht des Inkas Atahualpa dauerte nicht viel länger als eine halbe Stunde. Die Spanier waren selbst überrascht, mit welcher Leichtigkeit ihnen das Großreich im November 1532 in die Hände fiel. Auch der in den darauffolgenden Jahren immer wieder aufflackernde Widerstand – der einzige Versuch, der den Conquistadores tatsächlich zu schaffen machte, war der Aufstand des von ihnen zunächst als Marionette eingesetzten Inkas Manco Cápac II. 1536-1544 – scheiterte nicht zuletzt durch die fehlende Unterstützung seitens der die Inka-Herrscher verabscheuenden indianischen Bevölkerung.
Wir kennen alle aus den Schulbüchern die Geschichte des ruchlosen Verrates Francisco Pizarros am gefangenen Atahualpa: Nachdem Unmengen Gold als Lösegeld herangeschleppt worden waren, brach Pizarro sein Wort und ließ den edlen Gottkönig erwürgen. Genaueres Hinsehen auf die Quellen lohnt sich. Pedro Pizarro, Augenzeuge der Eroberung des Inka-Reiches und Verwandter des Eroberers, schrieb in seiner „Chronik der Eroberung Perus“ (1571), dass er in ganz Peru keinen Indio gesehen habe, „der Atabalipa an Grausamkeit und Autorität gleichkam“. Atahualpa hatte kurz vor der Ankunft der Spanier in einem blutigen Bürgerkrieg die Macht an sich gerissen, fast die gesamte männliche und weibliche Verwandtschaft umbringen lassen und ein wahres Schreckensregiment errichtet. Der „edle Wilde“ ist eine Erfindung Jakob Wassermanns („Das Gold von Caxamalca“, 1923).
Pizarro und Almagro strengten vor der Ermordung Atahualpas einen Prozess mit acht Anklagepunkten gegen ihn an. Nur der letzte davon beinhaltete den Vorwurf „einen Aufstand gegen die Spanier angezettelt“ zu haben. Die vorhergehenden bezogen sich neben dem üblichen religiösen Brimborium – der Inka habe sich des Götzendienstes schuldig gemacht – auf die erwähnten Bluttaten Atahualpas. Das Todesurteil der selbsternannten Richter war ausgemachte Sache. Zugleich wandelten die Mörder ihre eigene Motivation, die plumpe Gold- und Machtgier, in edelste Beweggründe um. Nicht um das glänzende Metall sei es ihnen gegangen, die Wahrung von Gerechtigkeit und Humanität wäre ihre wahre Motivation gewesen. Diese Zwecklüge wurde in den vergangenen 500 Jahren von Eroberer zu Eroberer weiter gereicht. Natürlich geht es nie um Öl oder strategische Einflussgebiete: Die Menschenrechte sind zu wahren, Despoten sind zu stürzen, der Einfluss verderblicher Religionen ist zurückzudrängen…
Den blutigen Kammerton haben Hernándo Cortéz und Franzisco Pizarro angeschlagen. Der Augustinermönch Celso Gargia hatte den Zug des Letzteren nach Peru begleitet und wurde auch Augenzeuge der nachfolgenden blutigen Auseinandersetzungen der Conquistadores um ihren Raub. Diego de Almagro (1538), Franzisco Pizarro (1541) und dessen Bruder Gonzalo Pizarro (1548) fielen ihnen selbst zum Opfer. In der verdienstvollen „Edition Erdmann“ erschien Gargias Bericht jetzt wieder – und er erscheint bei der Lektüre mitnichten als Geschichte, die weit entfernt in grauer Vorzeit stattfand und uns so gar nichts angeht. Der erste Schnitt zur Öffnung der Adern Lateinamerikas, um ein Bild Eduardo Galeanos zu gebrauchen, wurde in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vorgenommen.
Den kolonialen Bürgerkrieg beendete übrigens auch ein Priester: Pedro de la Gasca. 1550 segelte dieser nach Spanien zurück und brachte Karl V. zwei Millionen Dukaten mit. Die Kunde von dem Schatz, so der Chronist Petro de Cieza, sei dem Kaiser angenehm gewesen, „denn seine übermäßig gefüllte Schatzkammer war durch die letzten Unruhen in Deutschland erschöpft worden“. Damit war der Schmalkaldische Krieg des Habsburgers gegen die lutherischen Fürsten 1546-1547 gemeint. Mit der Verwüstung der amerikanischen Länder wurde die Verwüstung Mitteleuropas zu Beginn der Neuzeit finanziert.
Ein ärgerlicher Fehler unterlief dem Lektorat bei der Aufnahme der Bildbeigaben. Auf Seite 123 beuten „Indianer […] die Silberminen aus“. Das ist Unsinn. Die Abbildung wurde Georg Agricolas „De re metallica libri XII“ (1556), den „Zwölf Büchern vom Berg- und Hüttenwesen“, entnommen und zeigt allenfalls erzgebirgische Knappen beim Abteufen von Silberschächten. Der „Edition Erdmann“ darf so etwas nicht passieren.

Robert und Evamaria Grün (Herausgeber): Die Eroberung von Peru. Pizarro und andere Conquistadoren 1526-1712, Edition Erdmann, Wiesbaden 2015, 320 Seiten, 24,00 Euro.

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400 Jahre später wendete sich das Blatt. Mit dem Ende der antispanischen Freiheitskriege im Jahre 1825 begann für Lateinamerika eine Einwanderungswelle, die die Migrationsbewegungen in der Folge der Conquista und der iberischen Kolonialisierungspolitik weit in den Schatten stellen sollte. Das waren Menschen, die sich die Illusion von rasch „erworbenen“, also zusammengeraubten, Millionen-Vermögen weitestgehend abgeschminkt hatten und lediglich dem Traume nachhingen, für sich und ihre Kinder bis zum Lebensende den Zustand zu erreichen, möglichst nicht mehr hungern zu müssen. Allein nach Argentinien kamen bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges zirka sieben Millionen Menschen, überwiegend aus den Ländern Südeuropas. Die italienischstämmige Einwanderung stellte dabei den Löwenanteil. Etwa 60 Prozent der heutigen Bevölkerung Argentiniens hat italienische Wurzeln. Der Schriftsteller Edmondo de Amicis – wir stellten kürzlich sein traumhaftes Istanbul-Buch vor – begleitete 1884 die Fahrt des italienischen Auswandererdampfers „Galileo“ von Genua nach Montevideo und Buenos Aires. An Bord des Schiffes waren gut 1.600 Menschen aus den ärmsten Gegenden Italiens, die ihre Heimat liebten, sie aber dennoch verlassen mussten. Der Autor beschreibt viele Gesichter, „die erzählten, wie lange diese Menschen gekämpft und geblutet hatten, bevor sie dieses Schlachtfeld verließen“ : „die zunehmende Verarmung des Bodens, die Vernachlässigung der Landwirtschaft wegen der Revolution, die politische erzwungenen Steuererhöhungen, das Erbe der Vergangenheit, die ausländische Konkurrenz, die Malaria“. Im Verlaufe der Reise lernt er noch ein gutes Dutzend anderer Gründe kennen… De Amicis reiste Erste Klasse. Nach seinen „Feldstudien“ auf dem Vorschiff, auf dem sich die Auswanderer tagsüber aufhalten durften, konnte er immer wieder in den Salon der Betuchten oder in seine Einzelkabine zurückkehren. Und die von ihm dort erlebten und in seinem Bericht beschriebenen Eifersüchteleien und der Saturiertheit der Vermögenden geschuldeten Konflikte nehmen sich geradezu als ins Pittoreske getriebene Gegenbild zur Welt der Auswandererdecks aus. Dort begegnete ihm übrigens anfangs die heftige Abwehr aller Armen dieser Welt gegen die Versuche von Oberschichten-Voyeuren, ihnen zu sehr auf die lumpenverhüllte Pelle zu rücken. Edmondo de Amicis musste erst begreifen lernen, dass die nationale Phrase da, wo es ums Leben geht, nichts zählt. Diesem argen Weg seiner Erkenntnis zu folgen, ist spannend und berührend zu gleich. Sein als „Roman“ – diese Bezeichnung ist ein klassischer Fehlgriff des Autoren – untertitelter Bericht hat genau genommen nichts anderes zum Thema. Höhepunkt ist das vom Autoren geführte Gespräch mit dem revolutionären Alten, der ihm lange voller Verachtung die kalte Schulter zeigte: „Sie sagen, jeder Auswanderer schadet Italien. […] Aber wie lange soll ich denn warten, ich wandere ja aus, weil wir hier nichts mehr zu beißen haben. […] wie die Welt jetzt ist, kann das nicht mehr lang dauern. Zu vielen geht’s schlecht.“
In einem klugen Nachwort hebt der Schriftsteller Erri de Luca die unerhörte Aktualität von „Auf dem Meer“ hervor: „‚Auf dem Meer’ lesen bedeutet zu erschauern, angesichts des Gegensatzes zwischen den zivilen Zuständen von damals und der Barbarei von heute.“ De Luca spricht von den „mehr als 20 ‚Titanics’“, die in den letzten Jahren zwischen Afrika und Sizilien untergegangen seien. Er meint die Ertrunkenen, die dem europäischen Abschottungswahn zum Opfer fielen. Ich bin dem CORSO-Verlag für dieses Buch sehr dankbar. Dieser Dank gilt auch der wunderbaren Übersetzerin Annette Kopetzki.

Edmondo de Amicis: Auf dem Meer, CORSO, Wiesbaden 2015, 173 Seiten, 39,90 Euro.