18. Jahrgang | Nummer 8 | 13. April 2015

Zivilcourage und Eigensinn. Der Dichter Stephan Hermlin

von Peter Liebers

„Junge Dichter, die gelesen werden wollen, senden ihre bisher unbekannten und unveröffentlichten Arbeiten an die Deutsche Akademie der Künste zu Berlin.“ Diese für eine Akademie merkwürdig anmutende Einladung im Herbst 1962 hatte der anspruchsvollste Dichter des Landes Stephan Hermlin (1915-1997) initiiert. Volker Braun, geboren 1939, fühlte sich angesprochen und erinnert sich daran, dass die Einladung zu einer Akademie-Lesung „einer der Augenblicke größter Rührung und Dankbarkeit“ gewesen und der Abend, an dem Hermlin die von ihm aus den 144 Einsendungen getroffene Auswahl „wie Kostbarkeiten intonierte“, zum Ausgangspunkt der Lyrikwelle in der DDR geworden sei. Zu Hermlins Auswahl gehörten damals übrigens neben Braun auch Wolf Biermann, Bernd Jentzsch, Rainer Kirsch, Sarah Kirsch, Karl Mickel und B.K. Tragelehn. Hermlins untrügliches Gespür für dichterische Begabungen erwies sich, indem seine Aktion zum Karrierebeginn vieler der bedeutendsten Lyriker der DDR wurde.
Wie restriktiv die Kulturpolitik zu Beginn der 1960er Jahre bereits war, wird deutlich daran, dass selbst der international geschätzte und mit zahllosen Kollegen verbundene Schriftsteller nicht vor Sanktionen geschützt war. Aufgrund des gesellschaftskritischen Inhaltes der vorgetragenen Gedichte wurde Hermlin von seiner Funktion als Sekretär der Sektion Dichtkunst und Sprachpflege der Akademie entbunden.
Wer kann ermessen, was solche Erfahrungen in dem vor hundert Jahren am 13. April 1915 in Chemnitz geborenen Sohn jüdischer Eltern, schon früh im Sozialistischen Schülerbund Berlin politisch engagierten Schüler, 1936 nach Palästina ausgewanderten und voller Hoffnung und Gestaltungswillen zurückgekehrten jungen Dichter ausgelöst haben? Nach seiner Rückkehr aus dem Schweizer Exil 1945 arbeitete er als literarischer Redakteur in Frankfurt am Main, kehrte aber 1947 aus politischen Gründen dem sogenannten „Adenauer-Deutschland“ den Rücken, siedelte nach Ostberlin über, wurde Mitglied der SED und arbeitete für Zeitschriften wie den kulturpolitischen Aufbau oder dem satirischen Ulenspiegel.
In den Kämpfen der Zeit, so meinte Hermlin, erblicke der Schriftsteller die Zeit selbst als Verbündeten, „ein hohes Segel, unter dem er mitgerissen in die Zukunft fährt“. Zu einem unbestreitbar großen Autor der deutschen Nachkriegsliteratur wurde Hermlin, der mit bürgerlichem Namen eigentlich Rudolf Leder hieß, durch Erzählbände wie „Zeit der Einsamkeit“, „Zeit der Gemeinsamkeit“ oder „Abendlicht“. Letzterer war freilich Auslöser für eine von Karl Corino, damals Literaturredakteur beim Hessischen Rundfunk, forcierte Debatte über Ungereimtheiten in Hermlins Biografie („Außen Marmor, innen Gips“).
Corino behauptete, Hermlins Angaben in seinem Lebenslauf stimmten in entscheidenden Punkten (von seinem Widerstand in der Resistance oder im spanischen Bürgerkrieg bis hin zum KZ-Aufenthalt seines Vaters) nicht mit den biografischen Hinweisen in der Erzählung „Abendlicht“ überein. Kaum zu glauben ist, dass der wertgeschätzte Literaturkritiker Karl Corino nicht erkennen konnte, dass Hermlins „Erziehungsbuch“, wie FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher das „Abendlicht“ nannte, „weder Memoiren, noch Autobiografie, noch Erzählung“ darstellten. Das aber konnten Corinos Kollegen Gustav Seibt und Friedrich Dieckmann sehr wohl begründen. Dieckmann, als akribisch urteilender Wissenschaftler bekannt, befand 1996, „das Genre des Textes ist schwebend“. Schließlich habe Hermlin nie den Anspruch erhoben, dass sein literarisches Werk als authentische Biografie zu lesen sei. Im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ (41/1996) hatte Hermlin detailliert dazu Stellung genommen.
Corino versteigt sich zu der Behauptung, diese von ihm entdeckten Ungereimtheiten müssten auch dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR aufgefallen sein, wodurch der Dichter politisch erpressbar gewesen sei. Damit beschädigte Corino, wie der Schriftsteller Rolf Schneider noch kurz vor Hermlins Tod urteilte, dessen „zweifelsfreien Haltungen von Zivilcourage und Eigensinn und streute den Verdacht, solches sei im Auftrag der Stasi geschehen“.
In dem zeitgleich bei Wagenbach und im Leipziger Reclam-Verlag 1979 erschienenen Prosaband „Abendlicht“ hat Hermlin die Bilanz seiner Jugend verbunden mit einer künstlerischen Bestandsaufnahme. Wer sich mit dem vergleichsweise schmalen Werk des Dichters beschäftigt, wird hier Hermlins Versuch erkennen, Themen und Motive seiner Lyrik wie seiner Novellen, Porträts und Essays zu verbinden. Seiner Bildung und den musischen Neigungen entsprechend ist diese von Erinnerungen gespeiste Prosa von verschiedenen Künsten beeinflusst: Musik, Weltliteratur, Malerei. Ein eigentümlich reizvoller Band, aus der Erinnerung an Kindheit und Jugend geschrieben und eben doch nicht autobiographisch: Dichtung und Wahrheit, Erlebtes und die Vorstellung von etwas formt Hermlin in „Abendlicht“ als eine Abschiedsstimmung ohne Wehmut. Vielmehr ist sie bestimmt von der tiefen Erfahrung der eigenen Vergänglichkeit und dem fast heiteren Einverständnis mit ihr
Und es sind herausfordernd politische Reflexionen, wenn Hermlin 1979 schreibt: „Ich fand bei den Klassikern des Marxismus wichtige, manchmal blendende Hinweise auf Dinge der Kunst, auch wenn sie nicht um der Kunst willen, sondern um ökonomische Entwicklungen in ein deutlicheres Licht zu setzen, niedergeschrieben worden waren. Aber schon ihre unmittelbaren Nachfolger hatten aus diesen Erkenntnissen kaum etwas gemacht; die Texte wurden als heilige Schriften behandelt, sie wurden zitiert, während eine wirkliche Arbeit damit hätte beginnen müssen, dass man diese Erkenntnisse wissenschaftlich, also immer wieder neu befragend und historisch relativierend behandelte.“
Hans Mayer, der neben Marcel Reich-Ranicki weniger laute „Literaturpapst“ und von Schriftstellern wie Bertolt Brecht oder Christa Wolf hoch geschätzte Kritiker und Lehrer, notierte zum „Abendlicht“ Hermlins: „Welch schönes Buch. Die Reinheit dieser Prosa ist gegenwärtig fast vergleichslos, seit (Günter) Eich tot ist. Da hat sich, im Abendlicht, ein Werk leise vollendet. Ein leises Werk. Ich bin sehr bewegt.“
Nicht zu vergessen, in der DDR stellte sich der „kommunistische Spätbürger“, wie der 1979 nach Westdeutschland übergesiedelte Dichter Günter Kunert Hermlin nannte, auch gegen die Zensur und gehörte zu den Initiatoren des Protestbriefes von Künstlern der DDR gegen den von der Parteiführung im November 1976 vollzogenen, in seinen Konsequenzen gänzlich unterschätzten Willkürakt der Ausbürgerung Wolf Biermanns. „Einzig Hermlin hatte das Format und das Ansehen, uns Petenten damals zusammenzurufen. Ganz unironisch ließe sich sagen, dass Hermlin unfreiwillig eine neue Zeitrechnung einführte, denn jetzt hieß es ‚vor Biermann‘ und ‚nach Biermann‘, und zwar nicht nur unter den Schriftstellern und Künstlern“, lautet Kunerts Resümee.
„Ich bin ein spätbürgerlicher Schriftsteller – was könnte ich als Schriftsteller auch anderes sein.“ Mit diesem herausfordernden Bekenntnis stellt sich im Mai 1978 Stephan Hermlin beim Schriftsteller-Kongress der DDR einem Angriff des 1. Sekretärs der SED-Bezirksleitung Konrad Naumann entgegen, der die Biermann-Sympathisanten als „bürgerliche Künstler“ diffamiert hatte. Naumanns Äußerung, erklärte Hermlin damals, „finde in ihrer Niedertracht nicht leicht ihresgleichen“.
Es ist zu kurz gedacht, Hermlins konsequente Haltung und Reformstreben seiner schon Ende der 1930er Jahre beginnenden Verbindung mit Erich Honecker zuzuschreiben. Vielmehr spricht für Frank Schirrmachers Vermutung, „nicht die höchst durchschnittliche Figur des Generalsekretärs erhöhte den Dichter, sondern die hohe Position dessen, zu dem er Zugang hatte. Vielleicht glaubte er, sich als ‚Fürstenerzieher‘ goethegleich einsetzen zu können…“
Diesem Gedanken näher zu treten und dabei Stephan Hermlin mehr zuzutrauen, als der FAZ-Herausgeber hier nahelegt, empfiehlt Volker Braun aus vielfach mit Hermlin gemachter Erfahrung. „Seine bloße Anwesenheit änderte unser Verhalten, etwas von seiner Würde färbte auf die Rund- und Plattköpfe ab.“ Braun erinnert auch an Hermlins Bekenntnis auf einer Versammlung im Berliner Schriftstellerverband 1975: „Ich bin jetzt sechzig. Wir haben genug verschwiegen und verdreht. Von nun an leiste ich es mir, nur die Wahrheit zu sagen.“