von Harald Werner
Was kann man von einem Buch mit dem Titel „Der Schneider von Ulm“ erwarten, wenn nur die Unterzeile verrät, dass es sich um „eine mögliche Geschichte der KPI“ handelt?
Eigentlich nicht mehr als eine erratische Annäherung an die schwierige Frage, wie die einstmals größte kommunistische Partei des Westens mit mehr als zwei Millionen Mitgliedern fast spurlos verschwinden konnte. Doch was Lucio Magri, einer der brillantesten Köpfe dieser Partei, hier auf rund 450 Seiten hinterlassen hat, ist eine kleine Sensation.
Mit der Ballade vom Schneider von Ulm wollte Brecht 1952 daran erinnern, dass der Kommunismus ebenso wenig durch Abstürze aufzuhalten sei, wie die Entwicklung der Luftfahrt durch das Scheitern eines ihrer Pioniere. Letztlich hat denn auch der 2011 verstorbene Magri nicht nur eine faszinierende Geschichte der KPI geschrieben, sondern eine des Kommunismus, des Kalten Krieges und der italienischen Politik, von der Niederlage des Faschismus bis zum Ende des Systemgegensatzes.
Das materialreiche und brillante Buch ist keine biografische, sondern eine politikwissenschaftliche und sozialgeschichtliche Abhandlung, die vieles in Erinnerung ruft, Hintergründe aufdeckt und manch scheinbar Bekanntes aus einer neuen Perspektive betrachtet. Und es geht nicht nur um Geschichte. Die KPI hat so ziemlich alles praktiziert, was linke Politik heute diskutiert. Es geht um radikale Opposition, um Tolerierung von Regierungen, um Regierungsbeteiligungen, die Schwierigkeiten des „demokratischen Weges zum Sozialismus“ und immer wieder um das Verhältnis zwischen Partei und Massenbewegungen. Manchmal wünscht man sich, die PDS und nachher die Linkspartei hätten früher und vor allem mehr aus dieser Geschichte gelernt.
Magris Blick auf die Geschichte des Kommunismus im 20. Jahrhundert ist ein dialektischer, weil er dessen Fehler und Erfolge, wie auch den schon 1919 beginnenden Kalten Krieg als widersprüchliche Einheit betrachtet. Letzterer begann mit der Intervention regulärer und ausländischer Söldnertruppen in den russischen Bürgerkrieg, die nach Angaben des französischen Außenministers Pichon „hundertvierzigtauend Franzosen, hundertneunzigtausend Rumänen, hundertvierzigtausend Engländer, hundertvierzigtausend Serben, Amerikaner und Japaner“ umfasste. Doch der Autor erliegt nicht der Versuchung damit den späteren Terror Stalins zu erklären. Seine Kritik am Stalinismus ist grundsätzlicher, richtet sich gegen den von ihm durchgesetzten Parteityp, den Mangel an Demokratie und der falschen Wirtschaftspolitik. Diese Kritik spiegelt sich bereits in seiner Auseinandersetzung mit dem XX. Parteitag der KPdSU und den Defiziten der Entstalinisierung wider, die vor allem Willkür, Personenkult und Terror brandmarkte, die grundsätzlichen Fehler der späten 1920er Jahre und das Versagen des kommunistischen Kommandosystems aber ausblendete. Ein für alle Kommunisten schmerzhafter Prozess, der gerade in Italien „von starken Emotionen und etablierten Kräften behindert wurde.“
Die Schuld allein Stalin anzulasten verhinderte nach Meinung des Autors, dass sich der Kommunismus in Ost wie West nach Ende des Zweiten Weltkrieges erneuern konnte. Magri beschreibt bis ins Detail wie der Bruch mit Tito und Mao, wie auch die Ereignisse in Ungarn und Polen, letztlich aber auch der Einmarsch in die ČSSR, nicht allein ein Ergebnis sowjetischer Machtpolitik waren, sondern der Unfähigkeit kommunistischer Parteien, sich Sozialismus ohne demokratischen Zentralismus vorstellen zu können.
Die Geschichte der KPI nach dem Zweiten Weltkrieg, die letztlich in den Bruch mit Moskau mündete, erweckte gerade bei westlichen Beobachtern immer den Eindruck, dass in Italien gänzlich andere Wege als sonst in Westeuropa eingeschlagen wurden. Und dieser Eindruck wird zunächst auch von Magri bestärkt, indem er ebenso detailreich wie spannend die Experimentierfreudigkeit und die enge Bindung an das beschreibt, was er Gramsci-Genom nennt: Die Orientierung auf Massenbewegungen, die Beachtung des kulturellen Wandels und eine entwickelte Streitkultur, die abweichende Meinungen nicht nur zuließ, sondern ihnen auch Raum gab.
Nur, und das ist die bittere Seite von Magris Resümee, dies alles erstickte immer wieder durch den vorherrschenden Parteityp, der der Führung nicht nur das letzte Wort gab, sondern auch die unerbittliche Herrschaft über die Kader. In dieser Hinsicht stand auch die KPI selbst dann noch im Schatten Stalins, als sie ihn glaubte radikal überwunden zu haben.
Die IKP konnte sich bis 1991, dem Jahr ihres freiwilligen Untergangs, bei den Wahlen einmal als stärkste, meistens aber als zweitstärkste parlamentarische Macht behaupten. Sie tolerierte Regierungen, war an Regierungen beteiligt und konnte sich über Jahrzehnte auf einen Stimmensockel von rund 30 Prozent stützen. Gleichzeitig war sie, wie keine andere kommunistische Partei des Westens, stark mit den Arbeiterkämpfen verbunden und konnte mit außerparlamentarischen Aktionen die Regierungspolitik beeinflussen, so dass sich der größere Teil von Magris historischer Abhandlung wie eine Studie liest, in der alle Möglichkeiten und Probleme einer Verbindung von parlamentarischem und außerparlamentarischem Kampf liest.
Das teilweise bislang unbekannte Material enthüllt die tatsächliche Strategie des viel umstrittenen „Historischen Kompromiss“ und die Details der US-Strategie, ein von Kommunisten regiertes Italien zu verhindern. Folglich geht Magri auch dem viel diskutierten Verdacht nach, ob Moro, der sich 1978 für eine Regierungsbeteiligung der KPI engagierte, letztlich nicht von den Roten Brigaden, sondern von westlichen Geheimdienstagenten ermordet wurde. Er kann die Frage nicht beantworten, aber die von ihm geschilderte politische Konstellation liest sich ungeheuer spannend, weil sie einerseits bekannte Verschwörungstheorien in Frage stellt, andererseits aber auch tiefe Einblicke in die Machtspiele des Kalten Krieges gewährt.
Auf die gerade in der deutschen Linkspartei häufig diskutierte Frage, inwieweit sich sozialistische Politik auf den Parlamentarismus einlassen oder eher ihr Heil in der außerparlamentarischen Opposition suchen soll, erscheint bei Magri in einem völlig neuen Licht. Die tatsächlichen Probleme der KPI resultierten in den späten 1960er Jahren weniger daraus, dass sie die eine oder andere Seite des Kampfes vernachlässigte oder bevorzugte, sondern aus dem inneren Zustand der Partei: „Während immer mehr Wähler der Partei ihre Stimme gaben, die Arbeiter wieder kämpften, die Jugend sich verstärkt für Politik interessierte, ging die Mitgliederstärke der Partei in wenigen Jahren von 2,1 auf 1,6 Millionen, die des Jugendverbandes FGCI von 358.000 auf 170.000 zurück, nahm Zahl und Einfluss der Parteizellen in den Fabriken ab.“ Die KPI war auf beiden Seiten des Kampfes aktiv und erfolgreich, doch das Parteileben selbst verlor immer mehr an Attraktivität, weil es in Formalien erstickte.
In den 1980er Jahren kam auf die Partei eine weitere, belastende Entwicklung zu, nämlich die allgemeine Krise der italienischen Politik und ihrer Institutionen. „Die Verfilzung von Kriminalität und Wirtschaft, Machenschaften zwischen Kriminalität und Politik, eine nahezu strukturelle Etablierung der Steuerhinterziehung und verbreiteter Schacher mit Geld, Wählerstimmen und der Duldung von Steuerhintergehen“ entzogen dem Parteiensystem den letzten Rest an Akzeptanz und schadeten letztlich auch der IKP. Magri bezeichnet es als ein „Wunder auf absteigendem Ast“, dass die Partei inmitten dieser Krise dennoch 1984 mit 33,3 Prozent ihr bestes Wahlergebnis erzielen konnte. Doch die Partei selbst hatte wenig davon, sie begann sich zu zerlegen.
Während die christdemokratische und die sozialistische Partei Italiens, die über Jahrzehnte Italien regierten, im Sumpf von Kriminalität und Korruption versanken und sich deshalb auflösten, wird das Ende der ebenso geachteten wie erfolgreichen KPI auch bei Magri weniger erklärt als beschrieben.
Er führt den Mitgliederschwund der Partei an, die nachlassende Begeisterung an der Basis, die nur noch bei Pressfesten auflebte und schließlich die Veränderungen der neuen Generation „der subalternen Klassen“ die „mittlerweile hauptsächlich von der Massenbildung und mehr noch von der Kulturindustrie geprägt“ sind, stellt aber letztlich fest: „Wenn ich die Situation der KPI, die Erfolge und Schwierigkeiten bilanziere, kann ich mir, ehrlich gesagt, weder ein kohärentes und abgeschlossenes Bild machen, […] die mir eine verlässliche Einschätzung dieser Phase erlaubte.“
Erst wenn man die italienischen Geschichte der 1980er Jahr als Ganzes Revue passieren lässt, entsteht so etwas wie Verständnis für das Auseinanderbrechen dieses mächtigsten kommunistischen Partei des Westens. Neben der Schwäche der KPI beim Aufgreifen neuer Fragen und der Stagnation theoretischer Arbeit scheint Magri den Hauptgrund im Scheitern der Perestroika zu sehen. Überhaupt ist die Analyse des Scheiterns der Sowjetunion eines der interessanten Teile des Buches. Obwohl sich die Partei schon Jahre vorher von Moskau distanziert hatte, raubte ihr das jämmerliche Versagen der Perestroika offenbar den Rest ihrer ideologischen Orientierung.
Die letzte Etappe der Partei wurde paradoxerweise durch den Versuch einer Neugründung eingeleitet, in der sich eine heftige Diskussion über ihren künftigen Namen entwickelte, hinter der sich aber eine heillose Suche nach einem neuen strategischen Konzept verbarg. Selbst der alte Liberale Bobbio schrieb in La Stampa: „Ich frage mich, ob das, was in der IKP passiert, nicht eine Wende von 180 Grad ist. Man hat den Eindruck, dass dort ein riesiges Durcheinander herrscht. Der Übereifer, mit dem man die alte Fracht über Bord wirft, ist mir suspekt. Ja, man hält sich über Wasser, aber der Laderaum ist leer. Man macht sich falsche Hoffnungen, wenn man glaubt, dass neue Ware in jedem Hafen leicht zu finden sind. Vorsicht! Da wird eine ganze Menge schadhafter Sache gehandelt, viel ausgedientes Zeug, das als neu ausgegeben wird.“
Das „Durcheinander“ führte dazu, dass die IKP in nur zwei Jahren 400.000 Mitglieder verlor. Zunächst wurde vorgeschlagen, das Auseinanderfallen der Partei durch eine föderale Struktur „mit einer anerkannten kommunistischen Minderheit“ zu verhindern. Als dies scheiterte, folgte 1991 die Spaltung in zwei Parteien: Partito Democratico della Sinistra (Demokratische Partei der Linken, PDS) und Partito della Rifondazione Comunista, (Partei der Kommunistischen Wiedergründung, PRC), der auch Magri angehörte.
„Möglicherweise“, so schreibt der Autor abschließend, „habe ich ein paar ernsthafte Argumente dafür geliefert, dass der Kommunismus kein Unglück war und nicht nur einen Haufen Asche hinterlassen hat.“ Doch seine eigentliche Absicht, „einige feste Anhaltspunkte zu finden, um das Wort ‚Kommunismus’ besser zu verstehen“ ist ihm nach eigenem Bekenntnis nicht gelungen.
Dass man dem widersprechen kann, zeigt der Anhang „Eine neue kommunistische Identität“. Ein Dokument von 1987, das in der Schublade verschwunden war, sich aber heute noch wie eine präzise und hoch aktuelle Studie des Kapitalismus des 21. Jahrhunderts liest.
Lucio Magri: Der Schneider von Ulm. Eine mögliche Geschichte der KPI, Argument/InkriT, Hamburg 2015, 458 Seiten, 46,00 Euro. Aus: neues deutschland, 07.04.2015. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.
Schlagwörter: Antonio Gramsci, Harald Werner, IKP, Italien, Kommunismus, KPI, Lucio Magri