von Heerke Hummel
Im Streit darüber, wie die griechische Schuldenkrise zu überwinden ist, spielt Deutschland als stärkste Wirtschaftsmacht der Europäischen Union eine tonangebende Rolle. Im Streben, für den Schuldenabbau ihren Sparkurs nicht nur den Griechen, sondern allen EU-Ländern aufzuzwingen, können sich die derzeit kursbestimmenden Kräfte dieses Landes – offensichtlich noch mit Gelingen – auf die bisherigen deutschen Wachstumserfolge berufen.
Jedenfalls konnte nach dem Wahlsieg der SYRIZA vom 25. Januar die antigriechische Front in der EU bisher gehalten werden. Dennoch: Die Protestbewegung im Süden und Westen der EU gegen die von der BRD verordnete Politik des unsozialen Sparens dürfte in den nächsten Monaten weiter an Umfang und Kraft gewinnen. Bereits 2013 veröffentlichte der Franzose Guillaume Duval ein Buch, dessen deutsche Übersetzung im vorigen Jahr unter dem Titel „Modell Deutschland? Nein Danke!“ erschien. Duval, Chefredakteur der Monatszeitschrift Alternatives Économiques, arbeitete mehrere Jahre in der deutschen Industrie, kann also als guter Kenner auch der hiesigen Verhältnisse angesehen werden. Seine Analyse aus französischer Perspektive macht das Buch für deutsche Leser besonders interessant. Denn der Autor hat nicht gegen die Deutschen geschrieben. Im Gegenteil! Er würdigt unsere Leistungen und wirtschaftlichen Erfolge und analysiert mit einem wirtschaftsgeschichtlichen Rückblick deren tatsächliche Ursachen, die wohl jenen nicht bewusst sind, die herablassend ganz Europa das Schrödersche Sparmodell der Agenda 2010 aufzwängen möchten. Sein Resümee: „Die deutsche Industrie ist nicht besser über die Krise hinweggekommen als die französische, weil Gerhard Schröder die Ausbreitung von Armut merkbar gefördert und aus Deutschland ein Land gemacht hat, in dem die Ungleichheit noch größer ist als in Frankreich. Die wahren Ursachen dieses Erfolgs und die nachahmenswerten Elemente des deutschen Modells liegen eher im Bereich der Mitbestimmung und der stärkeren Beteiligung der Beschäftigten an Unternehmensentscheidungen, in einem weniger autoritären und hierarchischen Management, in einer höheren gesellschaftlichen Wertschätzung der Industriearbeit, in einer größeren sozialen Mobilität, darin, dass das Land ohne die französischen Eliteschulen auskommt und in seinem Bildungssystem nicht nur auf permanenten Wettbewerb und Selektion setzt, und letztendlich in einer ausgeglicheneren föderalen Struktur …“
Deshalb mahnt Duval eindringlich, dass ein verallgemeinerter „,Schröderismus“ – weit entfernt davon, die Lösung für Europa zu sein – das sicherste Mittel zu seiner definitiven Zerstörung wäre. Europas einzige Chance im weltweiten Wettbewerb um die Sicherung der volkswirtschaftlichen Rohstoff- und Energiebasis sieht er im ökologischen Umbau „unserer Wirtschaftssysteme“ und in der Energiewende. Nur so werde die europäische Wirtschaft ihre gegenwärtige Krise dauerhaft bewältigen können.
Als Realist sieht Duval, dass ein solches Vorhaben unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht zu schaffen ist, „wenn die einzelnen Länder nur individuelle Schritte ergreifen“. Deshalb bedürfe es unbedingt eines gemeinsamen europäischen Handelns. Und hier helfe kein Knausern. Um wirksam zu sein, müsste ein solches Projekt eine ganz andere Dimension erhalten als die mageren 120 Milliarden Euro, die 2012 von Deutschland und Frankreich für ein dreijähriges Wachstumsprogramm zusammengekratzt wurden. Hier seien eher Tausende von Milliarden zu veranschlagen.
Dies alles eine Utopie – auch angesichts von manchen befürchteter Umverteilungseffekte oder früherer Erfahrungen mit Geldern beispielsweise für Griechenland und Spanien? Der französische Ingenieur denkt an die Gründung einer handlungsfähigen europäischen Umweltbehörde, die den Auftrag hätte, „diesen großen gemeinsamen Plan der ökologischen Wende flächendeckend direkt in Europa umzusetzen.“ Und er meint, dass ein solcher europäischer „Green New Deal“ das wirksamste Mittel sein kann, „um auf einen Streich sowohl die europäische Wirtschaftskrise zu überwinden als auch den Prozess der europäischen Integration neu zu beleben.“
Ins Zentrum dieses Prozesses wäre Deutschland mit seinen technischen Möglichkeiten und Erfahrungen wieder neu einzubinden. Immerhin habe ja Deutschland viel früher als Frankreich die Bedeutung der ökologischen Krise erkannt und beträchtliche Anstrengungen zur Nutzung erneuerbarer Energien unternommen, um die Energieeffizienz seiner Wirtschaft zu erhöhen und Rohstoffe zu recyceln. Daher beherrsche die deutsche Industrie die hierfür notwendigen Prozesse weit besser als andere Länder und verfüge über die technische Ausstattung, um sie umzusetzen. Deutschland wäre folglich der erste Nutznießer eines europäischen „Green New Deal“.
Wer soll das bezahlen? Auf die Frage, wie ein solches Konzept, an dessen weitergedachtem Schluss irgendwann sogar die Schaffung eines harmonischen, dynamischen europäischen Wirtschaftsraumes stehen könnte, zu finanzieren wäre, geht Duval als Ingenieur nicht ein. Das tut dem Buch keinen Abbruch. Dennoch muss sie gestellt und erörtert werden, damit das Fazit an seinem Schluss nicht nur eine schöne Vision bleibt. Schließlich scheint Europa derzeit gerade am Problem des Geldes zerbrechen zu können, und die Lösung des Problems ist höchst dringend. An dieser Stelle kann nur festgestellt werden, dass Duvals Vorschläge vollkommen realistisch und finanzierbar sein dürften, wenn man sich bei dem Vorhaben von privaten Geldgebern und Spekulanten frei macht. Eine direkte, zinslose und möglichst zweckgebundene Bereitstellung der notwendigen Mittel durch die Europäische Zentralbank in Abstimmung mit der in Aussicht genommenen europäischen Umweltbehörde als Planungs- und Koordinierungszentrum könnte im Wesentlichen die Lösung des Problems darstellen. Niemand müsste irgendwelche Besitzstände opfern. Europas Wirtschaft erhielte einen massiven Konjunktur- und Beschäftigungs- sowie Integrationsimpuls, und es könnte sogar – je nach Ausgestaltung der Verträge – übernationales europäisches Staatseigentum entstehen.
Auch dies alles nur Utopie? Die Macht ökonomischer Notwendigkeit wird es früher oder später erzwingen, dass die Europäische Union sogar Institutionen schafft, welche die wirtschaftlichen Kreisläufe in einem vielseitigen Wechselverhältnis von Zentralismus und Eigenverantwortung planend koordinieren. Immerhin hat die EZB unter dem Druck ökonomischer Zwänge mit ihren – formal ungesetzlichen – Aktivitäten zum Aufkauf von Staatspapieren bereits begonnen, sich zu einer solchen Institution zu entwickeln. Und mit ihren vorsichtigen Ansätzen zu einer Null-Zins-Politik stellt sie, wenn auch noch unbewusst, notwendige Weichen für ein ökonomisches Denken, das nicht mehr auf Kapitalverwertung, also auf die Selbstvermehrung von Geld abzielt, sondern primär auf die Schaffung sachlicher Voraussetzungen für die Befriedigung von Bedürfnissen. Was Guillaume Duval am Schluss seines Buches vorschlägt, könnte sich durchaus zu einem zukunftsträchtigen und beispielgebenden „Modell Europa“ entwickeln, das an die Stelle des „Modells Deutschland“ tritt. Doch das Wichtige für uns: Deutschland hätte davon mit den größten Nutzen.
Guillaume Duval: Modell Deutschland? Nein Danke!, VSA: Verlag, Hamburg, 2014, 213 Seiten, 16,80 Euro.
Schlagwörter: Deutschland, EU, Griechenland, Guillaume Duval, Heerke Hummel, Wirtschaft