von Klaus Hammer
Es gibt kaum ein bedrückenderes – aber auch notwendigeres – Buch als dieses. Über 15 Jahre hat der Kunsthistoriker und Historiker Jürgen Kaumkötter in Gedenkstätten, Archiven und Privatsammlungen geforscht und Kunst aus den Konzentrationslagern und Ghettos recherchiert, heute weitgehend unbekannte Künstler wiederentdeckt und Arbeiten zusammengetragen, die als Zeugnis, Überlebenshilfe, Rekonstruktion und Denkmal eine vielfache Funktion haben. Kunst als ein Überlebensmittel.
Die Künstler standen 1945 dem Völkermord und dem alles zerstörenden Krieg erst einmal sprachlos gegenüber. Das von ihnen grauenvoll Erlebte blieb undarstellbar. Erst als sie eine Übersetzung gefunden hatten, als sie von einer Produktions- in eine Rezeptionsästhetik der nachfolgenden Generation wechselten, so Jürgen Kaumkötter, fanden sie ihre Sprache wieder. Sie stellten nicht das Undarstellbare dar, sondern übertrugen das Erlebte in eine für den Betrachter versteh- und ertragbare Form. Die Arbeiten, die im Konzentrationslager entstanden waren, hatten dagegen die Realität noch direkt, unmittelbar, ohne jede Symbolsprache wiedergegeben. Erst nach ihrer Befreiung benutzten die Künstler Symbole und Metaphern, diese waren aber mitunter so übermächtig, dass sie die Bilder fast grotesk wirken ließen. Die Sinnbilder waren nicht mehr kongruent mit dem Inhalt – ein Zeitphänomen, das nicht nur die künstlerischen Medien betrifft. Die Künstler trauten ihrer eigenen Sprache nicht mehr. Die Werke waren ein stummer Schrei oder in ihnen waltete ein Manierismus des Grauens.
Der Verfasser untersucht in seinem Buch vornehmlich die Kunst in Auschwitz 1940-1945 und stellt erschütternde Werke vor: Auf Czeslaw Kaczmarczyks Aquarell „Nachtszene“ (1943-44) flieht ein Mann entlang einer Mauer, hinter der Häuser im Dunkeln liegen (nur ein Fenster ist erleuchtet), vor unsichtbaren Verfolgern. Wlodzimierz Siwierski zeigt in der Bleistiftzeichnung „Regulierung der Sola I“ (1940), wie ausgemergelte Häftlinge mit Spitzhacken und Schaufeln einen Wassergraben ausheben müssen. Halina Olomucki skizziert mit Bleistift einen zu allem entschlossenen „Widerstandskämpfer in Auschwitz“, während Wincenty Gawron eine Karikatur des SS-Offiziers Karl Fritsch und seiner menschenverachtenden Haltung angefertigt hat (1942). In der Kohlezeichnung „Erledigt“ (1942) von Mieczyslaw Koscielniak marschiert ein SS-Mann davon, der gerade einen Häftling zu Tode geprügelt hat. Waldemar Nowakowski lässt in seinem Aquarell „Vor der Gaskammer“ eine verzweifelte Mutter mit ihren beiden Kindern den nahen Tod ahnen. Dem Porträt „Krystyna Madej“ (1944) verlieh Jan Markiel den Charakter eines Sehnsuchtsbildes: Der Künstler hat aus dem Fenster seiner Baracke dieses Mädchen, deren Familie den Häftlingen half, nur aus der Ferne gesehen und war von ihren strahlend blauen Augen beeindruckt. In ihr verkörpert er seine Hoffnung auf das Überleben. Sein „Selbstbildnis mit Pinsel“ (1930er Jahre) ist Marian Ruzanski Ausdruck seiner künstlerischen Besessenheit, seine „Auschwitz-Mappe“ – Kaumkötter bezeichnet sie als „polnisches Guernica“ – enthält bewegende Porträts von Häftlingen, denen die alltägliche lebensbedrohende Realität von Auschwitz ins Antlitz eingeschrieben ist.
Peter Kien wurde 1941 nach Theresienstadt deportiert und malte und dichtete dort weiter. Wenn er Szenen des Lageralltags in Zeichnungen festhielt, waren es kleine Geschichten, die nur sehr entfernt die Bedrohung sichtbar werden lassen. In ausdrucksstarken Porträts, auch in Karikaturen gab er den Traum der Porträtierten wieder, eine zarte Ironie voller Menschenliebe. Das Grauen des Lagers findet sich dann in seinen Gedichten wieder. In Auschwitz überlebte Kien zwar die Selektion, starb aber Ende 1944 vermutlich an einer Infektion.
Dem in Auschwitz ermordeten Künstler Felix Nussbaum wiederum ist in der wissenschaftlichen Literatur eine Art rückwärtsgewandte Prophetie, eine allwissende Voraussicht unterstellt worden. Kaumkötter wendet dagegen ein, dass Nussbaum nach 1938 aber nicht passiv seine Lebenssituation ins Bild bannen wollte, es ging ihm um mehr, als nur „Beweisstücke“ für den Holocaust zu schaffen. Nussbaum begann sich jetzt erstmals mit politischen Phänomenen zu befassen, die gesellschaftliche Gegenwart zu reflektieren. Er wurde vom reagierenden zum agierenden Künstler, er schuf nicht „Opferkunst“, sondern Widerstandskunst, wobei er mit Symbolen und Allegorien arbeitete. Sein „Selbstbildnis mit Judenpass“ ist Porträt, aber auch ein Ausdruck der Zeit, ein Historienbild, eine Allegorie der NS-Verfolgung, ein Sinnbild der Shoa. Nussbaum weist hier seinen Pass mit dem Judenstempel vor und hebt zudem den Aufschlag seiner Jacke an, um auch den Judenstern zu zeigen. Er schaut dem Betrachter direkt ins Gesicht. Er kehrt die Stigmatisierung als Jude um, der Betrachter wird in die Rolle des ihn Kontrollierenden, des Überwachers, des Täters versetzt. „Die Verdammten“ (1944) wissen, was ihnen droht: Die Särge tragenden Untoten im Hintergrund zeigen es ihnen an. Von den ihre Gefühle offenbarenden „Verdammten“ hebt sich Nussbaum mit einem Selbstbildnis ab, er ist Zeuge des Geschehens, was er malt, hat er erlebt und – jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt – überlebt. War „Der Triumph des Todes“ (1944), der immer apokalyptisch und immer retrospektiv gedeutet wurde, wirklich Nussbaums letztes Bild? Er hat sich nicht mit dem Tod abgefunden, sondern wollte – auch als er die Hölle von Auschwitz erlebte – bis zuletzt leben.
Die tschechischen Künstlerin Dinah Gottliebova musste im KZ Auschwitz für die SS-Lagerärzte Lucas und Mengele Porträts von „Zigeunern“ und Nona-Kranken anfertigen, die als Opfer zu deren verbrecherischen „rassenkundlichen“ Studien herangezogen wurden. Diesen Absichten widersetzte sie sich und zeigte eindrucksvolle Individuen, keine abschreckenden Stereotype. Sie schuf eigenständige Kunstwerke von bedrückender Schönheit.
Bis in die 1960er Jahre nutzten die Künstler lediglich einige Motive der christlichen und antiken Ikonografie für ihre Bilder sowie wenige Metaphern, die das grauenvoll Erlebte umschreiben. Höllenstürze, Pietas und die Apokalypse waren unverfänglichere Setzungen, der Schrecken geht auf Metaphern zurück, mit der man der Wirklichkeit beizukommen suchte.
Eine neue Bildsprache, in der die Katastrophe des Massenmordes versinnbildlicht werden konnte, entstand dann erst durch eine junge Künstlergeneration mehr als 20 Jahre nach dem Krieg. Acht „Heroische Sinnbilder“ (1970) von Anselm Kiefer zeigen einen Mann an einem See, der die Hand zum Hitlergruß erhoben hat. Der damals 24-jährige Künstler hatte sich in einer Performance an verschiedenen Orten in Frankreich, Italien und in der Schweiz mit erhobenem Arm fotografieren lassen („Besetzungen“). Erst 2008 wurde der Zyklus ausgestellt. Es folgten Kiefers Bildserien „Margarete“ und „Sulamith“, keine Illustrationen von Paul Celans „Todeshymne“, sondern eine eigene, zwischen Vision, mythischem Erleben und realer Erinnerung angesiedelter Bildwirklichkeit.
Von der israelischen Künstlerin Sigalit Landau gibt es das Video „Barbed Hula“ (2000) – eine unbekleidete junge Frau schwingt am Strand einen Reifen aus Stacheldraht um ihre Taille, die Verletzungen des Drahtes werden am Körper zusehends sichtbarer. Ein ganzes Bündel von Assoziationen dringt hier auf den Betrachter ein: Stacheldraht als Symbol des KZ, die Wunden der Frau, der Schmerz, den der Betrachter mitempfindet, das Gefangensein, das Spiel am Strand.
Der Cartoonist Michel Kichka gibt in seiner Text-Bild-Geschichte „Die zweite Generation“ (Köln 2014) die Beziehung zu seinem Vater Henri wieder, der Auschwitz überlebte und für den die Erfahrungen der Shoa zeitlebens präsent blieben. Der Sohn erzählt aber nun nicht die Geschichte des Vaters, sondern seine eigene, die des Schattens, der auf den Nachgeborenen liegt. Kann man also heute schon von einem Paradigmenwechsel sprechen, der die Akzeptanz der Kunst dieses Themas wiederherstellt? Oder wie es Kaumkötter formuliert: „Kann in der Befreiung der Emotion aus dem Gefängnis der Metaphern der Schlüssel gegen die Entmündigung dieser Kunst liegen“?
Die Künstler aus den Konzentrationslagern haben ihre Erlebnisse in Kunst gebannt und so eine Überlebensstrategie unter der Bedrohung der Verfolgung und des Todes entwickelt.
Man mag über die künstlerische Qualität einzelner Arbeiten streiten, aber für die Künstler waren sie Überlebenshilfe, Befreiung von einem lebensbedrohenden Trauma. Vor allem aber: Sie haben das Undarstellbare für immer festgehalten. Sie haben es geschafft, dass der Tod eben nicht das letzte Wort hatte.
Jürgen Kaumkötter: Der Tod hat nicht das letzte Wort. Kunst in der Katastrophe 1933-1945, Verlag Galiani, Berlin 2015, 383 Seiten, 39,99 Euro.
Schlagwörter: Jürgen Kaumkötter, Klaus Hammer, Konzentrationslager, Kunst, Widerstand