18. Jahrgang | Nummer 9 | 27. April 2015

Besuch im „seltsamen Land“

von Renate Hoffmann

Wer nach Worpswede reist, trägt Rainer Maria Rilkes Betrachtungen in der Tasche: „Es ist ein seltsames Land. Wenn man auf dem kleinen Sandberg von Worpswede steht, kann man es ringsum ausgebreitet sehen […] und die Wege und Wasserläufe führen weit in den Horizont hinein. Dort beginnt ein Himmel von unbeschreiblicher Veränderlichkeit und Größe.“
Der Weg wollte es, dass ich zuerst den „Barkenhoff“ sah. Man erkennt die eigenwillige Architektur auf den ersten Blick. Sie lässt nicht vermuten, dass es vormals ein altes, abgewohntes Bauernhaus war, als Heinrich Vogeler (1872-1942) das Anwesen 1895 erwarb, eingeschossig und ohne Schornstein; mitsamt Stallungen und vier Morgen Land. Mit verwilderten Obstwiesen und alten Kastanien. „Wie schön muß es sein, unter den großen Kastanienbäumen wohnen zu können“, schrieb der Maler. Es gelang. Im Verlauf der nächsten Jahre wuchs, geboren aus Ideenreichtum und erträumter schönerer Welt ein Gesamtkunstwerk. Haus und Garten durchdrangen einander. Eine Birkenanpflanzung gab Vogelers Haus den Namen (Barken sind Birken). Nunmehr ein Ort, gleichermaßen der Zurückgezogenheit wie der Geselligkeit dienend. – Der Barkenhoff wurde zum Musenhof, an dem sich Malerkollegen, Schriftsteller, Theaterleute und Kunstbeflissene, Intellektuelle und Neugierige trafen.
Das „seltsame Land“ entdeckten fünf Maler Ende des 19. Jahrhunderts für sich, vom trockenen Ton der akademischen Ausbildung abgestoßen. Da sie sich vorwiegend von der Düsseldorfer Kunstakademie her kannten, zog einer den anderen nach. Fritz Mackensen (1866-1953) kam als Erster. Ihn hatte eine Worpswederin auf die Eigenart der Moorlandschaft aufmerksam gemacht. Gemeinsam mit dem befreundeten Otto Modersohn (1865-1943) besuchte er die Gegend im Juli 1889 erneut. Im August meldete sich Hans am Ende (1864-1918). Mackensen und er waren eine Zugbekanntschaft. Die Begeisterung des Einen für die malerische Worpsweder Umgebung hatte den Anderen eingefangen.
Als der Sommer sich neigte, dachten die Drei daran, ihren Aufenthalt zu verlängern. „Wie wäre es, wenn wir überhaupt hier blieben, […] den ganzen Winter. […] Fort mit den Akademien, nieder mit den Professoren und Lehrern, die Natur ist unsere Lehrerin.“ (Otto Modersohn, Tagebucheintragung). Natürlich blieben sie, wenn auch unter schwierigen Umständen. So entstand die „Urzelle“ der Worpweder Künstler-Kolonie.
Mackensen und Modersohn besuchten Düsseldorf. Ein junger Mann interessierte sich für das Leben beider im Moordorf. Sie luden ihn ein. Er folgte der Aufforderung und blieb ebenfalls. Fritz Overbeck (1869-1909). Mit diesem hinwiederum war Heinrich Vogeler bekannt und suchte ihn in Worpswede auf, lernte dort die „Urmalerfreunde“ kennen und ebenso Martha Schröder (1879-1961), seine spätere Frau und Muse.
Der Barkenhoff. Vogelers Reich ist sorgfältig museal gestaltet und gewährt Einblicke in ein Künstlerleben voller Brüche. Rastlos auf der Suche nach einer besseren Welt. Von überquellender Fantasie getragen, allseitig und unermüdlich tätig; den deutschen Jugendstil mitprägend. Und verlöschend – interniert in Kornejewka (Kasachstan) – „wie ein alter räudiger Hund, der auf den Tod zu warten hat“ und trotz alledem: „Dabei bin ich noch so erfüllt von Arbeitswillen und Ideen.“ (Aus einem Brief an seinen Sohn Jan.)
Ein dreiteiliges Gemälde führt auf des Malers feintönendes Geleis. „Melusine“ (entstanden um 1912): Die Schöne mit dem Schuppenkleid sitzt im Paradiesgarten, einer üppig wuchernden Traumlandschaft. Von einem Jägersmann beobachtet, wendet sie sich ab, Nachdenklichkeit im Blick. Das große Wasser ist zwischen ihnen.
Dann der Reigen grafischer Arbeiten. Zeichnungen, Radierungen – zart und durchsichtig. Zu Märchen der Brüder Grimm und von Oscar Wilde; zu Titeln aus dem Insel Verlag; nach Buchvorlagen von Hugo von Hofmannsthal, Gerhart Hauptmann; zu Texten von Rainer Maria Rilke und anderen.
Unter der Vielzahl der „feinen Striche“ fehlen nicht die Exlibris-Beiträge. In Heinrich Vogelers eigenem Bücherzeichen schwingt die Lyrik. Das aufgeschlagene Buch mit der Rose Zentiolie liegt vor einem schlichten Sockel, der eine Schmuckvase trägt. Dahinter wächst ein wilder Rosenbusch in den Sommerhimmel. – Ganz anders die sogenannten „Komplexbilder“, geboren aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und Vogelers späterem Aufenthalt in der Sowjetunion. Sie sprechen vom politischen Engagement des Künstlers. Großflächig, wuchtig und Szenen mit sozialer Aussage bündelnd. Ähnlich den teilweise noch vorhandenen Fresken in der Diele des Hauses.
In der oberen Etage begegnet man dem Tausendsassa des Jugendstils. Architekturentwürfe, Innenausstattungen, Vorgaben für Tapetenmuster. Das Tulpenbesteck (Schönheit und Nutzen im Einklang); Gläser, Porzellane, Türbeschläge, Schmuck.
Das „Rilkezimmer“. Dichter und Maler sahen sich erstmals in Florenz. Briefwechsel und Einladung nach Worpswede. Rilke im Spätsommer 1899: „Eigentlich ist das ein Märchen. Ich sitze in einem ganz weißen, in Gärten verlorenen Giebelhaus, […] in Stuben, die voll von der Stimmung eines Schaffenden sind.“ Wort und Bild ergänzen einander. Vogeler illustriert Werke Rilkes. Den Dichter regen die Aufenthalte zu Schriften und auch zu Gedichten an. Er erdenkt „für seinen lieben Heinrich Vogeler“ den Haussegen, wie er am Barkenhoff noch zu lesen ist. Zuweilen bildet Rilke den Mittelpunkt der Zusammenkünfte im Künstlerhaus. Modersohn beschreibt sie: „Unvergessliche Sonntage bei Vogeler, von Musik u. litterarischen Ereignissen auf die schönste Weise verklärt.“ – Später endet die Freundschaft Rilke/Vogeler. Jeder geht seinen eigenen Weg.
Einen dieser Sonntage erlebt man in Vogelers großem Ölgemälde von 1905 „Sommerabend“ („Das Konzert“). Ich sehe es in der „Großen Kunstschau Worpswede“. Auf der Terrasse des Barkenhoffs sind sie versammelt. Die Musiker: Heinrich spielt Cello, Bruder Franz die Geige und Martha Vogelers Bruder Martin Querflöte. Die Zuhörer: Paula Modersohn-Becker (1876-1907), unvergessliche Malerin, die mit ihrer Sicht auf das Wesentliche in die Moderne wies. Clara Rilke-Westhoff (1878-1954), Bildhauerin und Freundin Paulas. Agnes Wulff, ebenfalls mit Paula befreundet. Otto Modersohn. Im Zentrum des Bildes steht Martha Vogeler, ihr zu Füßen ein russischer Windhund. Einer fehlt. Rainer Maria Rilke. Die Szenerie gleicht dem Abschiednehmen von vergangenen Illusionen.
Meinen Abschied vom „seltsamen Land“ nehme ich mit einem Besuch des historischen Zionskirchhofs. – Zu Paulas Grab. Die ovale Grabplatte mit dem Namenszug in Schreibschrift entwarf Heinrich Vogeler. Für die verehrte, frühverstorbene Künstlerin schuf der Bildhauer Bernhard Hoetger (1876-1907) die sinngebende Plastik. Eine niedergesunkene junge Frau, die im Schoß ihr Kind mit dem Apfel trägt. Werden und Vergehen.
Unweit der Ruhestatt, in der Zionskirche, findet man den lebendigen Nachlass der Künstlerin. Ausgelöst durch eine Wanderung der Freundinnen Paula und Clara, stiegen die beiden an einem Augustsonntag 1900 auf den Kirchturm und läuteten die Glocken – wie Heinrich Vogeler launig beschrieb –, „bis der Pastor, wie von Furien gepeitscht, […] die Turmtreppen hinaufgerast kam und die beiden aus ihrem Jubilieren riß. ‚Frevel, Frevel! […] Was soll das bedeuten?!’ Die Mädchen standen ganz freundlich da. […] ‚Weil es so schön war’, sagten sie, als sei ihnen ein Gedicht eingefallen“. Im Dorf vermutete man Feueralarm. Die Strafe folgte auf den Fuß. Die Beiden hatten die Empore der Kirche auszuschmücken. – Ich besehe mir das Werk. Zwischen den Säulen lächeln Claras Engelsköpfe und in den Zwickeln blühen Paulas Blumen. Malven, Tulpen, Mohn, Rudbeckien. Und Sonnenblumen.