von Wolfgang Brauer
Es ist mein Lieblingsfestival, an dem ich mit schwer zu erklärender Hartnäckigkeit hänge: Vom 27. Februar bis zum 15. März lief in Dessau-Roßlau zum 23. Male das „Kurt Weill Fest“. Auch die tapferen Veranstalter hängen an dieser Stadt, die es in einer Tätergemeinschaft mit dem Magdeburger Kultusministerium ihrer Kulturszene so schwer macht. Dafür gebühren Michael Kaufmann und seinem Team Dank! Immerhin haben sie ihr einstens kleines aber feines Festival auf eine Dauer von 17 Tagen ausgedehnt, drei Wochenenden impliziert. Inzwischen wird nicht nur die Doppelstadt an der Mulde bespielt, sondern es gibt Veranstaltungen in Wittenberg, Magdeburg und Halle. Vor zwei Jahren hatte es uns im dichten Schneetreiben bis in ein Autohaus am Rande Bitterfelds verschlagen – uns erwartete ein atemberaubender Tango-Abend im Industriegebiet! Man ist stolz auf 60 Veranstaltungen mit 600 Künstlern … Respekt, aber da liegt auch das Problem. Mit einem klar umrissenen Festivalprofil hat das eigentlich alles nichts mehr zu tun.
Dazu kommen die Schwierigkeiten, angesichts der quantitativen Ausweitung ein irgendwie alle Veranstaltungen abdeckendes Thema zu finden. Nun war Kurt Weill ein Jahrhundertkünstler und ein um den halben Erdball Getriebener dazu. Aber er wurde nur 50 Jahre alt – an Umfang ist das Werk begrenzt, auch wenn es beispielsweise allein neun Opern und zehn Musicals umfasst. Und Festival-Publikum ist rund um den Globus immer gierig auf frisches Futter. Schon deshalb sollte die Kurt-Weill-Gesellschaft den quantitativen Umfang ihres Festes überdenken. Zumal es ein Jammer ist, wenn ein so ambitioniertes Konzertprogramm wie die „Mondlieder – Oh Moon of Alabama“ mit der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz vor nur spärlich gefülltem Haus läuft.
Das Thema 2015 liegt für Dessau eigentlich auf der Hand, kann aber für ein Kurt-Weill-Fest banaler nicht sein: „Vom Lied zum Song“. Der lokale Anstoß liegt darin begründet, dass der als „Griechen-Müller“ bekannte Poet Wilhelm Müller 1794 in Dessau geboren wurde, hier unter traurigen Umständen 32 Jahre später starb und auch hier begraben liegt. Ohne Wilhelm Müller gäbe es weder die „Winterreise“ noch „Die schöne Müllerin“ – und ob die deutsche Spätromantik so stattgefunden hätte, wie sie stattfand, darf zumindest angezweifelt werden. Kurt Weill stammt ja auch aus Dessau, und wenn ihm ein Song zu romantisch zu werden drohte, rutschte er gerne mal eine halbe Oktav höher, als es unsere empathiebegierigen Ohren eigentlich erwarten. „Verfremdung“ nannte sein Kunst-Kumpel Brecht das. Also Müller, warum auch nicht. Aber man hätte wissen müssen, dass es im 21. Jahrhundert wieder ein gefährliches Unterfangen ist, mitten in Deutschland die kosmopolitische Moderne der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der deutschen Romantik zu konfrontieren …
Wir selbst näherten uns dem merkwürdigen Jahresthema vorsichtig, durch die Küche – nicht sozusagen, sondern im wahrsten Sinne des Wortes. Das Restaurant „Pächterhaus“ in Dessau-Ziebigk lockte mit einem musikalischen Dinner „Was jede Köchin summt…“ – ein Ralph-Benatzky-Titel aus der Operette „Liebe im Schnee“ (1916), der mehr über Pop-Kultur erklärt als ganze Pop-Kultur-Konferenzen. Ich möchte nicht richten müssen, was aufregender war: das gefüllte Maishähnchen der Küche oder der von Anna Haentjens vorgeführte Hühnerraub der Knaben Max und Moritz. Jedenfalls bin ich ihr und ihrem Begleiter Sven Selle aus Hamburg sehr dankbar, dass sie sich zumindest dreier Streiche des „Max-und-Moritz-Musicals“ des im vergangenen Jahr verstorbenen Berliner Komponisten Manfred Schmitz annahmen. Der hatte das übrigens für die Astrid-Lindgren-Bühne im FEZ in der Köpenicker Wuhlheide geschrieben. Haentjens realisierte im Rahmen des Weill-Festes auch einen Chanson-Workshop „Schiffbauerdamm 1927“.
1927 begannen Brecht und Weill ihre Zusammenarbeit – nicht mit der „Dreigroschenoper“, sondern mit dem „Mahagonny-Songspiel“ für die Kammermusikspiele Baden-Baden. Letzteres war am Tag nach der musikalisch garnierten Schlemmerei im Anhaltischen Landestheater Bestandteil, allerdings nicht der Höhepunkt, der schon erwähnten „Mondlieder“. Höhepunkt des „halbszenischen Konzertes“ – mit dieser dilettantischen Begriffsschöpfung wird ein mehr oder weniger steifes Herumgehampel der Solisten umschrieben, wobei immerhin die Musik durch tiefschürfende Regieeinfälle nicht allzu sehr gestört wird – war auf jeden Fall Antonín Dvořáks Lied der Nixe Rusalka „An den Mond“. Sara Hershkowitz ließ vergessen, dass wir in einem Dessauer Theatersaal saßen.
Im zweiten Teil des „halbszenischen“ Acts wurde zunächst Erwin Schulhoffs opus 54, „La Somnambule“ (1925) gegeben. Der Komponist bezeichnete das Stück selbst als „Tanzgroteske“. Das Orchester spielte es mit Begeisterung, aber leider wie einen frühen Weill. Ernst Theis (Chefdirigent der Staatsoperette Dresden, ein erwiesener Weill-Fachmann) hätte gelegentlich leicht bremsend auf die Tempi einwirken sollen. Schade, dass man nicht den Mut für eine choreographische Interpretation hatte. Lustlos wirkte dagegen die Darbietung des „Mahagonny Songspiels“. Das mag auch daran gelegen haben, dass die Solisten nicht in der Lage waren, sich gegen den Krach der Staatsphilharmonie zu behaupten. Selbst die wenigen Sprechpassagen waren noch nicht einmal für die vorderen Reihen verständlich. Jessie und Bessie waren zwar auf das Nuttigste geschminkt, aber Josephine Renelts und Andromahis Raptis Partien sind das (noch?) nicht. Diese eigentlich sichere Bank im Repertoire wurde im wahrsten Sinne des Wortes verspielt.
Man hätte gewarnt sein müssen: Ähnliche interpretatorische Probleme wurden tags darauf im Abschlusskonzert deutlich. Den Auftakt bildete Kurt Weills Einakter „Royal Palace“ (1927) nach einem Text von Iwan Goll. Auch hier übertönte das Orchester vielfach die Solisten; überraschend stark aber diesmal Andromahi Raptis (Sopran solo), die die Dejanira der Hershkowitz recht blass aussehen ließ. Eine langweilige Aufführung ansonsten, die das Potenzial dieses merkwürdigen, noch zwischen den Stilen der 1920er Jahre irrlichternden Stückes brach liegen ließ. Das Publikum reagierte nach der Pause überdeutlich. Die Programmgestaltung provozierte den ästhetischen Eklat allerdings: Man gab Durchschnittliches aus der Feder Richard Strauss’, die Suite „Der Bürger als Edelmann“ (1912) und zwei Stücke aus „Capriccio“ (1942). Nach wenigen Takten wurde klar, wo die Sympathien der Deutschen Staatsphilharmonie liegen. Nicht bei Kurt Weill, auch die Sympathien des Publikums lagen nicht bei diesem. „Weill selbst hätte dieses Programm wohl gefallen“, schreiben die Verfasser des Programmheftes. Mitnichten, es hätte ihn bestärkt, seinem letzten Exilland USA auf keinen Fall den Rücken zu kehren. Das Abschlusskonzert des diesjährigen „Kurt Weill Festes Dessau“ im nur schwach besetzten Saal des Anhaltischen Landestheaters war die Siegesfeier des deutschen Tonsetzers über den „entarteten“ vertriebenen jüdischen Großmeister der Moderne.
Selbst der biedere MDR muss das geahnt haben. Entgegen sonstiger Praxis wurde das diesjährige Abschlusskonzert nicht aufgezeichnet. Nichts gegen „Ännchen von Tharau“ (das wurde in Wörlitz gegeben), aber das „Kurt Weill Fest“ bedarf einer gründlichen renovatio. Es droht sonst im Sumpf der programmatischen Beliebigkeit zu versacken.
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