18. Jahrgang | Nummer 6 | 16. März 2015

Grüße vom Posthornbesitzer

von Frank-Rainer Schurich

Peter Høeg hat in seinem Roman „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ eine Situation beschrieben, in der sich ein Mechaniker und ein Gerichtsmediziner zufällig begegnen: „Der Mechaniker steht auf dem Bürgersteig. Die beiden Männer drücken einander die Hand. In ihrem Versuch, sich entgegenzukommen, reckt sich der Gerichtsmediziner, während sich der Mechaniker gegen die Erde drückt. Sie treffen sich in der Mitte, in einem Stummfilm der Linkischkeit. Wie so oft erhebt sich die Frage, weshalb Männer in ihrer Persönlichkeit oft diffus sind, wie es sein kann, dass sie an einem Obduktionstisch, in einer Küche, hinter einem Hundeschlitten virtuose Equilibristen sein können, während sie, wenn sie einem Fremden die Hand geben müssen, in infantiler Unbeholfenheit versinken.“
Ob das nun ein Vorurteil ist oder nicht, sei dahingestellt. Jedenfalls gibt es in der Geschichte der Gerichtsmedizin herausragend geerdete Persönlichkeiten, die weit über ihr eigenes Fach in die Welt hinausblickten, über exzellentes Wissen auf anderen Gebieten verfügten und sich oft für ganz normale Dinge des Lebens interessierten, so dass sie einem Fremden herzlich und unlinkisch die Hand drücken konnten.
Zum Beispiel der berühmte Gerichtsmediziner Otto Prokop (1921-2009), der als österreichischer Staatsbürger und Direktor des Instituts für Gerichtliche Medizin an der Berliner Charité für die DDR arbeitete (und nach dem Zusammenbruch der DDR dafür prompt eine Strafrente erhielt). Er war ein universeller Wissenschaftler, der sich jenseits seines Fachgebietes mit vielem, auch mit Briefmarkenfälschungen, beschäftigte und Fotoapparate sammelte. 1981 stiftete er dem Kulturbund der DDR für ein Fotomuseum rund 300 Kameras, die er bis zu seinem 60. Geburtstag zusammengetragen hatte. Bei allem, was er tat, wollte er Bleibendes schaffen.
Das Jahr 1981 war nicht nur das Jahr der Schenkung der Fotoapparate, sondern für Prokop auch in anderer Hinsicht ein bemerkenswertes. Doch der Reihe nach.
In St. Pölten geboren, widmete er sich unter anderem der Fälschung von österreichischen Briefmarken. Ein Artikel (zusammen mit Wolfgang Helbig) ist überschrieben mit „Eine weitere Briefmarkenfälschung (Österreich Nr. 15), für Sammler schwer erkennbar“. Es ging um die Typen I und II des „Kaiserkopfes nach links, 15 Kreuzer (blau)“ aus den Jahren 1858 und 1859, die im Wert erheblich differieren. Die Autoren wiesen nach, dass durch eine geringfügige Farbübertragung versucht worden war, der philatelistisch geringerwertigen Marke des Typs II das Aussehen der wesentlich wertvolleren des Typs I zu verschaffen.
Prokops Herz muss daher höher geschlagen haben, als 1981 in seinem Institut in der Hannoverschen Straße 6 in Berlin ein Brief von einem Herrn P. aus Angermünde eintraf, auf dessen Kuvert eine nicht mehr aktuelle Briefmarke geklebt war, abgestempelt am 12. August des nämlichen Jahres. Prokop setzte sich zwei Tage später an seine Schreibmaschine und tippte höchstpersönlich einen Brief, den er an die „Direktion Deutsche Reichspost 132 Angermünde“ adressierte: „Sehr geehrte Herren! Mit großem Vergnügen sehe ich, dass zur Frankatur von Postsendungen noch Marken aus dem Jahr 1946 verwendet werden können. Bitte bestrafen Sie den Absender des Briefes nicht – sondern vielmehr scheint es angezeigt, die für Briefmarkensammler interessante Ganzsache zu den Kuriositäten zu rechnen, die schon einmal vorkommen.“
Der Leiter des Post- und Fernmeldeamtes Angermünde war zu dieser Zeit Postrat Hans-Ulrich Tittler, der trotz der falschen Anschrift Prokops Brief auf den Tisch bekam. Ohne zu wissen, was für ein berühmter Gelehrter sich an ihn gewandt hatte, schrieb der Postdirektor am 21. August 1981 zurück: „Man kann den Vorgang, dass Sie der falsch frankierte Brief erreichte und auch Ihr Brief mit der ‚eigenwilligen‘ Anschrift an uns ordnungsgemäß zugestellt wurde, […] als Höflichkeit am Kunden auslegen. Fern jeder Eitelkeit hatte eben der Wille unserer Kunden nach rascher Beförderung Vorrang!“ Er wies zugleich darauf hin, dass es natürlich falsch sei, wegen einer Briefmarke aus dem Jahre 1946 die Deutsche Reichspost ins Spiel zu bringen, da diese bekanntlich am 8. Mai 1945 mit dem Deutschen Reich untergegangen sei.
Otto Prokop antwortete seinerseits am 25. August 1981 nach Angermünde: „Sehr geehrter Herr Rat Tittler! Wir haben uns sehr über Ihren Brief gefreut und vor allem, dass Ihnen ein Scherz willkommen ist und der ‚tierische Ernst‘ fremd. Würde es nur mehrere solche Leiter geben! Wenn Sie einmal mit Ihrem Team in Berlin sind und unser traditionsreiches und berühmtes Institut sehen wollen, mache ich das für Sie möglich.“
Hans-Ulrich Tittler fand die Einladung „enorm“, viel zu „groß“ für die kleine Post in Angermünde, und so gratulierte er erst einmal artig zum 60. Geburtstag. Denn zwischenzeitlich hatte er zufällig aus einem Artikel der Zeitschrift Das Magazin über Blutgruppeneigenschaften und Vaterschaftsbestimmungen erfahren, mit welch herausragendem Wissenschaftler er da korrespondierte. Im Artikel stand geschrieben, dass Prokop am 29. September 1981 seinen 60. Geburtstag feiern würde.
Am 15. Oktober 1981 fand der Jubilar Zeit für einen Antwortbrief – mit fast philosophischen Aussagen. „Die Menschen glauben allgemein“, so Prokop, „dass man mit 60 mehr wert ist als mit 59 oder mit 61! Darum hat es ja nur extrem selten Briefmarken mit 11 oder 19 Währungseinheiten gegeben, sondern eben 10, 20, 25, 60 usw. So ist es auch in der Strafjustiz: Man bekommt eben 10 Jahre oder 5, praktisch aber nie 9!“ Hans-Ulrich Tittler war erstaunt, dass sich ein so berühmter und anerkannter Mann in dieser liebenswürdigen Art mit ihm befasste. Seine Briefe hatte der stets kollegial unterzeichnet mit „Ihr Otto Prokop“.
Ein Besuch im Institut für Gerichtliche Medizin kam erst am 23. November 1985 zustande. „Versprochen ist versprochen!“, hatte Prokop zuvor an Tittler geschrieben, der jetzt schon Oberrat war. Die Gäste aus Angermünde wurden wie eine hochrangige Delegation behandelt; vier Stunden nahm sich der Gerichtsmediziner für die Postdelegation Zeit, die ihm zum Dank ein Posthorn überreichte. In der bezirklichen Postzeitung berichtete Tittler hernach über dieses Ereignis: „Es war für uns eine außerordentliche Ehre, ein unvergeßliches Erlebnis, einem so profilierten Menschen begegnet zu sein, der uns mit seiner Bescheidenheit, seinem Wissen und ganz persönlichen Bemerkungen zur Gerichtsmedizin so viel Interessantes vermittelte.“
Die Postzeitung fand natürlich auch ihren Weg in die Hannoversche Straße, und Prokop bedankte sich dafür am 23. Dezember (!): „Entgegen jeder Form und Ästhetik – aber wegen des bevorstehenden ‚Weihnachtsterrors‘ – antworte ich ‚so‘ – nach amerikanischer Art (wie das auch heißt). […] Ich danke Ihnen: a.) dass Sie und Ihre Mitarbeiter den Weg nach Berlin nicht gescheut haben, b.) dass Sie darüber so nett in ihrer Zeitung berichtet haben.“
Klar, zu Prokops 65. Geburtstag kamen wieder Glückwünsche aus Angermünde, und der Jubilar bedankte sich schon vorfristig am 23. September 1986 sehr herzlich als „Berufskollege (Posthornbesitzer)“. „Ich erinnere mich gerne Ihres Gremiums“, schrieb Prokop, „und ich sende Ihnen als bescheidenen Dank für Ihr Kollektiv eine saftige wissenschaftlich fundierte Kampfschrift, die bei Enke in Stuttgart erschienen ist, in der DDR gedruckt und in kleiner Auflage von Urania/Leipzig verkauft wurde.“ Die „Kampfschrift“ trug den Titel „Wünschelrute Erdstrahlen Radiästhesie. Die okkulten Strahlenfühligkeitslehren im Lichte der Wissenschaft“ und war – verfasst von Otto Prokop und Wolf Wimmer – 1985 in dritter Auflage erschienen.
Zehn Jahre später konnten Hans-Ulrich Tittler und seine Frau Otto Prokop noch einmal persönlich die Hände schütteln, denn sie waren Teilnehmer am wissenschaftlichen Symposium des Instituts für Gerichtliche Medizin aus Anlass des 75. Geburtstages von Otto Prokop und des 110-jährigen Institutsbestehens. Der persönliche Kontakt endete an diesem 12. Oktober 1996.
Das letzte Buch, das Tittler vom Gerichtsmediziner erhielt, war die „Homöopathie“ – natürlich mit Widmung, die sich trotz der Prokopschen Verbitterung ob seines persönlichen Nachwendeschicksals wie ein warmherziger Händedruck liest: „Für einen ‚meiner‘ Humanisten mit besten Wünschen von dem parteilosen ‚Strafrentner‘ Otto Prokop.“