von Wolfgang Brauer
Ich weiß nicht, ob man es als glücklichen Zufall bezeichnen darf, wenn es einem Künstler gelingt, gegen Ende eines Jahrhunderts die Bilanz seines Zeitalters, seines Schaffens zumal, in einem einzigen Bildwerk zu ziehen. Wieland Förster gelang dies 1999 mit seinem 2,11 Meter hohen Bronzetorso „Marsyas/Jahrhundertbilanz“. Das ist nun kein Motiv, das man positiv mit dem Wort „Glück“ in Verbindung bringen möchte. Marsyas war jener unglückliche Satyr, der meinte Apoll zum musischen Wettstreit herausfordern zu müssen. Das Jury-Urteil der Musen fiel gegen ihn aus – was Wunder, drei der Urteilenden waren Töchter Apollons. Apoll zog dem Marsyas daraufhin lebendigen Leibes die Haut ab. Auch das 20. war ein menschenschindendes Jahrhundert und Förster ahnt, dass das kommende nicht besser werden wird: „Denn noch immer, nach dem grauenhaften Ausrotten missliebiger und widerständiger Menschen während meiner Kindheit, wütet der massenhafte Tod. Im Jahre drei des neuen Jahrtausends tobten dreihundert Kriege auf der Welt.“
Auch der Künstler selbst hat dem Kelch menschlichen Elends mehr als einmal auf den Grund blicken müssen. In seiner Jahrhundertbilanz setzt er sich auch mit den eigenen Traumatisierungen auseinander: Wieland Förster wurde am Tag nach seinem 15. Geburtstag in Laubegast Zeuge des Unterganges Dresdens. 1946 geriet er durch eine Denunziation in die Fänge des NKWD. Er überlebte die Hölle Bautzen nur knapp. Zu Beginn der 1960er Jahre befand er sich als Meisterschüler Fritz Cremers zwischen den Mühlsteinen einer dogmatischen Kulturpolitik. Seit 1961 arbeitete er freischaffend in Berlin – um sich zwischen 1968 und 1973 jedoch einem fast vollständigen Ausstellungs- und Verkaufsverbot ausgesetzt zu sehen.
In dieser Zeit verbannten Kleingeister seinen „Großen Schreitenden Mann“ (1969) von der Trauerhalle des Neuen Friedhofes in Schwerin nach jahrelanger „Zwischenlagerung“ in einem Heizungskeller nach Güstrow. Der Künstler erklärt Jahre später selbst die Ablehnung seines Werkes als zwangsläufig: „Die oft missbrauchte Traditionslinie deutscher Gesundheits- und Männlichkeitsplastik nach Lehmbruck erschien mir nicht fortsetzbar.“ Aber genau die entsprach den Sehgewohnheiten nicht nur der Nomenklatura der DDR! Am Ende dieser Traditionslinie steht übrigens Arno Breker. Förster nennt den Namen nicht. 2006 sollte ausgerechnet in Schwerin ein Versuch der künstlerischen Rehabilitierung von des Führers Lieblingsbildhauer erfolgen.
In den Jahren dieser zermürbenden Auseinandersetzungen reift Försters Kunst. Er findet zu einer im wahrsten Sinne des Wortes eigen-willigen Bildsprache, die ihn in die Riege der ganz großen europäischen Bildhauer der Moderne stellt: Auguste Rodin, Henri Moore, Constantin Brâncuși, Fritz Cremer. Nicht zufällig kreuzen sich Försters künstlerische Wege häufiger mit denen des Österreichers Alfred Hrdlicka. Auch Hrdlicka arbeitete sich von 1955 bis 1965 am „Marsyas“ ab (eine Fassung steht vor der Stuttgarter Stauffenberg-Gedenkstätte, eine zweite gehört der Staatsgalerie).
Wieland Försters Arbeiten passen in keine der gängigen Schubladen der deutschen Kunstsortierer. Sie sind weder reine Abstraktion noch entsprechen sie einem post-klassizistischen Realismusbegriff. Das hat auch mit seinen Erfahrungshorizonten zu tun.
1967 ist er für einige Tage in Tunesien. Im Tal des Flusses Seldja zeichnet er „Blatt um Blatt und kann nicht loskommen von der Felsengestalt“ – „Hier stirbt jede Macht, sie wird nicht bekämpft, nicht besiegt, sie erlischt. Ich zeichne den Fels, seine Gesichter, Grate, seine Löcher, Buckel, […] Da lastet schwergliedrig der Leib einer Frau, ein Torso, verspannt, berstend vor Energien. Der Felsspalt eine Vagina, Dämonenschädel türmen sich übereinander, vergittern mit ihren Augen die Verliese, und oben, dort, wo das Tor mit der Felswand verschmilzt, das Symbol eines gewaltigen Phallus.“ Es ist nicht zu übersehen: Hier äußert sich auch ein großer Schriftsteller. Das Tagebuch der Tunesienreise erschien mit einem berührenden Nachwort Franz Fühmanns 1974.
Zwei Jahre zuvor zeichnet Förster im böhmischen Kuks bei Trutnov. Ihn interessieren die Bethlehem-Plastiken des Barock-Bildhauers Matthias Braun („Barock, das ist der Versuch, Eigenständiges zusammenzuschmelzen zum Gesamten“, schreibt er im Tagebuch dieser Reise „Sieben Tage in Kuks“). Und: „Ortswechsel löst die Substanz Schmerz nicht auf.“ So seine Erfahrung. Aber wer das Tagebuch liest, die in Kuks entstandenen Zeichnungen betrachtet – und sich dann mit dem ab Mitte der 1970er Jahre entstandenen Werk auseinandersetzt weiß, wie prägend auch das Erlebnis Braun wurde: „[…] was mich anzieht, ist seine maßlose Vorstellungsgabe, zum Hang zum Exzessiven, seine vulkanische Gestaltungskraft […]“.
Überhaupt Böhmen. Als Förster nach Kuks reiste, lag die Niederschlagung des Prager Frühlings erst vier Jahre zurück. 1968 schuf er eine kleine Bronze, 43,5 Zentimeter hoch – eine sich aus einer schartigen Wand förmlich herauskrümmende Figur, nein eine sich im Sturz vor ihr krümmend erhebende Figur, weder reines Relief noch Skulptur. Der Titel klärt uns auf: „Erschossener“. Gezeigt wurde sie erstmals 1979 in einer Schau unter dem Titel „Weggefährten – Zeitgenossen“ im Alten Museum in Berlin anlässlich des 30. DDR-Jahrestages, im Jahr darauf in Wieland Försters grandioser Werkschau der Nationalgalerie und der Akademie der Künste. 1986 war die Arbeit auf der XLII. Biennale in Venedig zu sehen. Erhard Frommhold, wie Hrdlicka nur zwei Jahre älterer Altersgenosse Försters und der Dresdner Spezialist für Widerständiges, schrieb für den Katalog der Berliner Personalausstellung einen klugen Text über die „hermetische Form“ der Bronze, „die sich nicht mehr steigern lässt, weil sie für sich monumental bleibt“. Die tatsächliche Dimension dieser Arbeit wird erst klar, wenn man um ihren Untertitel weiß: 21. August 1968. Das war der Tag des Einmarsches der Truppen des Warschauer Vertrages in die ČSSR.
Trotz alledem wendete sich Mitte der siebziger Jahre für Wieland Förster das Blatt der öffentlichen Akzeptanz. 1974 wurde er Akademie-Mitglied, zwischen 1979 und 1990 ist er Vizepräsident. Eine an Unkenntnis nicht zu toppende Journalistin der Welt ließ sich 2010 zu der dümmlichen Erklärung hinreißen, Förster habe sich später doch so arrangiert, „dass er sogar ins Ausland reisen konnte“.
Künstlerisch beschreitet er für die Plastik in der DDR in jener Zeit vollkommenes Neuland. Mit der Bronze „Paar“ (1970) zeigt er zwei im fast rechten Winkel aufeinandertreffende Torsi im Liebesakt, auch hier scheint die Schwerkraft (fast) aufgehoben; der Mann stemme sich, schreibt Franz Fühmann „einen Ewigkeitsaugenblick noch einmal schräg gegen das Weltall.“ Noch atemberaubender die „Große Badende“ (1971, 272 Zentimeter lang), ein Triumph der schwebenden, noch dazu in sich gedrehten Horizontalen! All das wird nur noch übertroffen von seiner „Großen Neeberger Figur“ (1971 – 1974) mit einer Höhe von 322 Zentimetern, einer sich archaisch überdehnenden Frauenfigur. Ihrer Faszination wird sich niemand entziehen können. Dennoch gehört sie wohl zum Rätselhaftesten, das der Künstler jemals geschaffen hat.
Geradezu zwangsläufig widmet sich das Alterswerk dem Thema der geschundenen Kreatur – ein Guss des schon zitierten „Marsyas“ steht vor dem Museum Bautzen. Das 1993 entstandene Denkmal „Namenlos – Ohne Gesicht (Anna Achmatowa). Denkmal für die zu Unrecht Verfolgten nach 1945“ steht im Nordosthof der Gedenkstätte Münchner Platz in Dresden. Die in ihrer Formensprache den Betrachter zutiefst verunsichernde Passionsdarstellung „Das Opfer“ (1993) wurde in der Potsdamer Gedenkstätte für die Opfer politischer Gewalt im 20. Jahrhundert aufgestellt. Diese Arbeiten sind keine Geschichts-Illustrationen. Sie verweigern sich vordergründiger Inbesitznahme. Sie wenden sich allerdings gegen jede Gewalt, die sich nur behaupten kann, indem sie Menschen bricht und zerstört.
Gerhart Wolf bezeichnete Wieland Förster einmal als Phänomen, als einen, „der ohne ständige Arbeit, rastlos, als Bildhauer, Maler, Grafiker und Schriftsteller, also Poet dazu, nicht leben kann“. Wer sich einmal auf das Werk dieses Jahrhundertkünstlers eingelassen hat, wird von ihm nicht wieder loskommen.
2001 brachte der Förster 58 seiner Arbeiten in die „Wieland Förster Stiftung Dresden“ ein. Eine Dauerausstellung dieser Kunstwerke wäre ein Gewinn für uns alle und würde seiner Heimatstadt zur Ehre gereichen. Am 12. Februar wird Wieland Förster 85 Jahre alt. Wir stehen seinem Werk voller Respekt gegenüber.
Figur tut weh. Positionen um Wieland Försters Große Neeberger Figur, Gerhard-Marcks-Haus Bremen, bis 12. April 2015; Am Wall 208, Freitag bis Sonntag 10.00 Uhr bis 18.00 Uhr, Donnerstag bis 21.00 Uhr.
Wieland Förster. Jahrhundertbilanz, Gedenkstätte Bautzner Straße Dresden, bis 17. Mai 2015; Bautzner Straße 112a, täglich 10.00 Uhr bis 18.00 Uhr.
Wieland Förster. Mittelpunkt Mensch. Plastik/Zeichnung/Grafik, Galerie Profil Weimar, bis 9. April 2015; Geleitstraße 8, Mittwoch bis Freitag 12.00 Uhr bis 18.00 Uhr, Samstag 10.00 Uhr bis 16.00 Uhr.
Schlagwörter: bildende Kunst, Dresden, Jahrhundertbilanz, Plastik, Wieland Förster, Wolfgang Brauer