von F.-B. Habel
Wenn bei uns von der „Dritten Generation Ost“ gesprochen wird, ist von Leuten die Rede, die ihre Kindheit noch bewusst in der DDR erlebten und als Jugendliche mehr oder minder erfolgreich in das neue System geworfen wurden. Viele der ehemaligen Jungen Pioniere haben den Systemwechsel verkraftet, andere sind auf der Strecke geblieben. Von diesen Leuten seiner Generation entwirft der 1977 in Leipzig geborene Clemens Meyer im 2006 erschienenen Roman „Als wir träumten“ ein Gruppenporträt. Regisseur Andreas Dresen hat es gemeinsam mit Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase adaptiert und damit am Wettbewerb der Berlinale teilgenommen. Zwar gab es keinen Preis, aber doch viel Aufmerksamkeit.
Gleich am Anfang führt der Film in eine geschlossene „Traumfabrik“, in ein leerstehendes Kino, in dem sich die Freunde Dani und Mark in den neunziger Jahren treffen. Einer von beiden wird nicht mehr lange leben. Dieses Traumfabrik-Motiv wird im Film leider nicht wieder aufgenommen, wie überhaupt alles fehlt, was der Handlung eine zweite Ebene geben könnte. Dresen und Kohlhaase erzählen von der Clique sechzehnjähriger Jugendlicher nüchtern, sachlich bis brutal, von der Desillusionierung der jungen Leute, und die einzigen Lichtblicke sind die typischen lakonischen Bonmots, die Kohlhaase zur Erleichterung des Publikums hinzuerfunden hat.
Fremd wirken die Rückblenden, in denen die Kinder als Thälmann-Pioniere gezeigt werden, die von den Lehrern im Sinne der sozialistischen Weltanschauung traktiert werden. Wer im halbwegs liberalen Berlin gelebt hat, kann sich nicht vorstellen, dass in Leipzig ein solcher Drill an den Schulen geherrscht haben soll. Doch was Lehrer und Eltern in diesen Situationen bewegt haben soll, bleibt der Film schuldig. Die Erwachsenen sind nur Staffage. Waren sie ab 1990 tatsächlich emotional so völlig abgetaucht? Hinzu kommt, dass wieder einmal jegliches Lokalkolorit fehlt. Kleindarsteller dürfen gelegentlich einen sächsischen Zungenschlag haben, ansonsten werden die Dialoge in Hochdeutsch ausgetragen, was nicht zur Glaubwürdigkeit beiträgt. Das mag nicht an den Machern liegen, dem Schweriner Dresen und dem Berliner Kohlhaase, sondern an der Sucht der TV-Redakteure (von denen Heerscharen beteiligt waren), alles so zu gestalten, dass es überall leicht verständlich und also austauschbar ist.
Wer Andreas Dresens Schaffen kennt, meint vielleicht, in „Als wir träumten“ ein Remake zu sehen. Schon 1997 beschäftigte er sich in „Raus aus der Haut“ mit dem Thema, wie Jugendliche mit Autoritäten in der DDR zurechtkommen. Jener Film war leichter, hatte mehr jugendlichen Charme und Witz, verkannte auch die Brisanz der Probleme der Heranwachsenden nicht. Ihn sollte man mal wieder sehen.
Doch auch „Als wir träumten“ wird sein Publikum finden. „Die Generation der heutigen Mittdreißiger bis Vierziger, die Technogeneration, die zum Teil in dieser Wendezeit etwas verloren gegangen ist, wird sich sicher für den Film interessieren“, sagte Dresen in einem Interview. „Deren Geschichte wurde bisher ja kaum erzählt.“
Möglicherweise wird das nun anders. In der Panorama-Sektion der Berlinale lief ein russischer Film, der thematisch eng mit Dresens verwandt ist. Die in Nishni-Nowgorod (Gorki) 1978 geborene Regisseurin Natalia Kudryashowa hat ähnliche Erinnerungen wie Clemens Meyer an die Zeit der Pionierorganisation. Sie springt in ihrem Langfilm-Debüt „Pionierhelden“ (Pionery-geroi) immer wieder zurück, während ihre Protagonisten allerdings näher an der Gegenwart sind als bei Meyer. Die Kinder von 1987 aus Weliki Nowgorod sind inzwischen Mitte bis Ende dreißig und leben in Moskau. Die Regisseurin selbst spielt Olga, eine der Hauptfiguren. Sie leidet unter Panikattacken, wie alle Figuren dieses Gruppenporträts psychische Probleme haben. Andrej ist computersüchtig und Katja leidet unter Alpträumen. Offenbar gehören alle zur sozial besser gestellten Moskauer Schicht, und die Leerstelle in Kudryashowas Schilderungen ist die Zeit unmittelbar nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems. Was haben sie da erlebt? War es nicht diese Zeit, die sie zu seelischen Krüppeln gemacht hat? Oder ist doch alles Übel auf die Zeit der Pionierehrenworte und der stalinistischen Architektur zurückzuführen?
Immerhin zeigt sich, dass es auch in Russland eine „Dritte Generation Ost“ gibt, die sich nachdrücklich zu Wort meldet. Gibt es sie auch in Bulgarien, Polen, Ungarn? Es wäre schön, wenn mehr davon in den deutschen kulturellen Einheitsbrei dringen würde, um Vergleiche ziehen zu können, nicht nur während der Berlinale!
Schlagwörter: Andreas Dresen, Clemens Meyer, F.-B. Habel, Natalia Kudryashowa, Pioniere, Wolfgang Kohlhaase