von Ulrike Steglich
Es ist schon paradox: Berlin stöhnt – wie andere Großstädte – unter ständig steigenden Mieten, weil Wohnraum immer knapper wird. Der Wohnungsmarkt ist seit Jahren ein Vermietermarkt. Initiativen fordern bezahlbare neue Wohnungen; der einstige Soziologenbegriff „Gentrifizierung“ ist längst in den allgemeinen Wortschatz eingegangen. Aber solange es Menschen gibt, die bereit und in der Lage sind, jeden geforderten Preis für eine Berliner (Eigentums-) Wohnung zu zahlen, wird die Verdrängung einkommensschwacher Bewohner weiter anhalten.
Doch kaum ergreifen der Berliner Senat oder Bezirke mal die Initiative (ohnehin mit unverzeihlicher Verspätung), um beispielsweise an den Rändern des Tempelhofer Felds oder auch an der Bremer Straße in Moabit mit städtischen Wohnungsgesellschaften erschwinglichen Wohnungsneubau zu schaffen und neue Baufelder zu erschließen, geht das nächste Geschrei los: Die Freiräume und grünen „Frischluftschneisen“, die Spielplätze, die Bäume und Nistplätze seien bedroht durch „Zubetonierung“! Dabei wird gebetsmühlenartig betont, natürlich brauche die Stadt neue Wohnungen – nur eben bitte schön nicht vor der eigenen Haustür … Das klingt dann beispielsweise so: „Wir als Volk haben uns erfolgreich gegen die Bebauung des Tempelhofer Feldes gewehrt und damit eine Frischluftschneise für Berlin erhalten …“
Das ist nicht immer, aber oft genug eine ziemlich verlogene Geschichte. Da ist zum Beispiel das Ehepaar N., das in Moabit erbittert darum kämpfte, den Kleinen Tiergarten in seinem zugewucherten Zustand zu erhalten (Nistplätze!) und ihn am liebsten als Wildwuchsbiotop umzäunt hätte, statt den Park wieder für alle nutzbar zu gestalten – auch für Migranten im Kiez. Gerade Frauen türkischer oder arabischer Herkunft mieden den Park wegen dessen Verwahrlosung seit Jahren.
Derzeit kämpft das Ehepaar N. vehement dagegen, dass ein untergenutzter und maroder Jugendverkehrsschulgarten in Moabit aufgegeben und durch eine Wohnungsbaugesellschaft bebaut wird. Gleich nebenan entsteht ja aber mit dem Kleinen Tiergarten eine richtig große, neu hergerichtete Grünfläche. Und um die Ecke, nahe dem Hauptbahnhof, gibt es den großen Fritz-Schloss-Park mit zahlreichen neuen Sport- und Spielanlagen, waldähnlichen Flächen, Parkanlagen. An Grün mangelt es also Moabit keineswegs, im Gegenteil: hier hat die Stadt mithilfe von Fördermitteln ordentlich investiert, um die Grünflächen für die Bewohner nutzbar zu machen.
Das pensionierte und kinderlose Ehepaar N. aus Süddeutschland hat übrigens vor ein paar Jahren eine schick sanierte, große Berliner Eigentumswohnung gekauft, Altbau, Stuckdecken. Wer da wohl vorher drin gewohnt hat? Soviel zum Thema Verdrängung.
Was also ist hier los? – Es fällt auf, dass sich in beiden Initiativ-Bewegungen (sowohl für Freiflächen als auch für mehr bezahlbaren Wohnraum) sehr viele Neuzuzügler finden, oft demonstrieren sie gleichzeitig für beides. Bei den Grünverfechtern findet man dazu immer mehr Eigentumswohnungsbesitzer. Klar: Um das Mietproblem müssen sie sich keine Sorgen mehr machen.
Nun mangelt es Berlin wirklich nicht an den berühmten „Frischluftschneisen“. Es gibt weltweit kaum eine Metropole mit so viel Luft, Grün und Wasser und so wenig Verdichtung wie Berlin. Wer über Berlin fliegt oder auch nur mit der S-Bahn einmal quer von Spandau nach Hellersdorf oder von Nord nach Süd fährt, kann selbst sehen, über wie viele Brach-, Grün- und Freiflächen diese Stadt verfügt. Und wer mit der Regionalbahn ins Umland fährt, sieht schon nach wenigen Minuten nur noch: Pampa, Felder, Wald. Also viele Frischluftschneisen. Da staunen nicht nur die Pariser mit ihren dichten Banlieues.
Neueste Alarmmeldung einer antibebauungsbewegten Aktivistin: „In Pankow soll übrigens eine derzeit noch überwiegend bewirtschaftete Ackerfläche von 27 ha in Karow-Süd mit 2500–3000 Wohnungen bebaut werden. Die angrenzenden Anwohner in ihren kleinen Häusern werden sich freuen, wenn sie dann 5-6-geschossige Neubauten vor der Tür haben.“ Damit ist ungewollt gleich das Motiv benannt: Wohnungsbau schon, aber doch bitte nicht vor meinem netten Häuschen! Wer Karow-Süd kennt, weiß, dass dort die Frischluftschneise wirklich sehr riesig ist …
Die rationalen städtischen Fakten sind simpel:
Erstens hält der Zuzug nach Berlin ungebrochen an, die Einwohnerzahlen wachsen stetig – ebenso wie die Zahl der Singlehaushalte und der Wohnflächenverbrauch pro Person. Das ist ein Luxus, den die Stadt nicht mehr leisten kann.
Immer mehr Mietwohnungen werden in Eigentumswohnungen umgewandelt, wobei man davon ausgehen kann, dass Eigentumsbesitzer sich wesentlich mehr Wohnfläche pro Nase leisten als Hartz-IV-Empfänger, Familien mit geringem Einkommen oder Studenten. Dazu wächst die Zahl von Zuwanderern (aus Osteuropa, Spanien, Italien …) und Flüchtlingen. All diese Menschen brauchen und suchen Wohnraum.
Selbst Außenbezirke wie Spandau oder Hellersdorf verzeichnen steigende Mieten sowie Leerstandsquoten von weniger als zwei Prozent – das ist weniger als die notwendige Fluktuationsquote von mindestens drei Prozent, die für normale Wohnungswechsel und Umzüge innerhalb einer Stadt notwendig wären.
Zweiter Hintergrund ist der Wegfall des Sozialen Wohnungsbaus für Neubau-Wohnungen Ende der 90er Jahre sowie die ersatzlose Streichung der öffentlichen Förderung privater Wohnungssanierungen im Jahr 2001. Beides war mit Mietpreisbindungen verbunden, die es auch Einkommensschwächeren erlaubt hatten, in der Innenstadt zu wohnen. Für diese schmerzhaften Kürzungen darf man sich unter anderen bei Klaus-Rüdiger Landowsky und Eberhard Diepgen (CDU) bedanken – im Zuge des von ihnen verursachten Bankenskandals und der daraus resultierenden Berliner Finanzkrise 2001 wurden solche Förderprogramme ersatzlos gestrichen. Bedanken darf man sich aber auch bei der SPD, deren Stadtentwicklungssenatoren fast 20 Jahre lang gebetsmühlenartig wiederholten, Berlin habe einen Leerstand von 100.000 Wohnungen. Diese absurde und absurd konstante Zahl beruhte lediglich auf vagen Stromzählerangaben der BEWAG (später Vattenfall). Doch jeder, der nur halbwegs bei Verstand war und die Wohnungsannoncen verfolgte, konnte sehen, wie der Wohnungsmarkt immer enger wurde.
Dazu trug auch eine verfehlte Liegenschafts- und Finanzpolitik bei: Zunächst mussten nach der Wende (aufgrund des Altschuldenhilfegesetzes des Bundes) die ostdeutschen Wohnungsbaugesellschaften massenweise städtische Wohnungen privatisieren, die zum Spekulationsobjekt wurden und heute im öffentlichen Bestand fehlen. Dann kündigte der Senat im Zuge des Bankenskandals nach 2001 die Anschlussförderung des Westberliner Sozialen Wohnungsbaus: Hintergrund war der Westberliner SPD/CDU/Investoren-Baufilz der 70er Jahre, der groteske Kostenmieten verursacht hatte. Als nach 2001 der neue rot-rote Senat diese Investorenförderung beendete, wurden die Kosten auf die Mieter umgelegt – woraufhin viele Sozialmieter umziehen mussten. Und schließlich verkaufte der senatseigene Liegenschaftsfonds etliche städtische Filetstücke an private Höchstbietende, um Geld in die öffentlichen Kassen der verschuldeten Stadt zu spülen.
Drittens sind städtische Grünflächen weniger von Bauvorhaben bedroht als vielmehr durch die Kürzungspolitik, die – ebenfalls infolge des Bankenskandals von 2001 und der hohen Verschuldung Berlins – besonders die Berliner Bezirksämter traf. Fortan musste an allem gespart werden – auch an den Grünflächenämtern, die unter extremen Personal- und Geldmangel leiden. Inzwischen weigern sie sich deshalb teilweise schon, Grünflächen zu pflegen oder gar neue auszuweisen. Stattdessen schlagen sie vor, begrünte Straßen-Mittelstreifen zuzupflastern: Dann nämlich ist die BSR für die Pflegekosten zuständig.
Und viertens wird die Stadt wohl eher durch zahllose Townhouses, überflüssige Shopping-Center und Hotels als durch öffentlichen Wohnungsbau zubetoniert.
Angesichts des Bürgerentscheids um das Tempelhofer Feld (wer hat da abgestimmt?) konnte man deshalb nur den Kopf schütteln. Ein riesiges Feld, auf dem genügend Platz wäre für Wohnungsbau an den Rändern und für einen großen grünen Park, ähnlich dem Central Park in New York. Es wäre auch eine Chance gewesen, sich endlich von stadtplanerischen Dogmen und Mantras zu befreien, mit denen der ehemalige SPD-Senatsbaudirektor Hans Stimmann samt seinem Architektenkartell die Stadt im Nachwende-Umbau diktatorisch traktiert hatte. Steinerne Stadt! Berliner Traufhöhe! Straßen auf Pferdekutschenenge! Heraus kamen ätzende Lochfassaden, öde Plätze, Investoren-Betonriffelbauten, langweilige Hotelriegel, für die die aufregendsten Bauten der Stadt und auch kleinste Pärkchen weichen mussten.
Man hätte nun an den Rändern des Tempelhofer Felds endlich mal den bahnbrechenden Entschluss fassen können, in die Höhe zu bauen, also über die „Berliner Traufhöhe“ hinaus. Schließlich geht beides: Wohnen und Freiflächen gehören zusammen. Wann endlich begreift man in Berlin, dass Fläche eine Ressource ist? Wie man in der Grundfläche platzsparend viele Wohnungen und dennoch für viele nutzbare Freiflächen und Infrastruktur schaffen kann, hat wohl der DDR-Wohnungsbau insbesondere der 60er und 70er Jahre gezeigt – Gebiete, die bis heute funktionieren, wie an der neueren Karl-Marx-Allee.
Hochhäuser sparen enorme Erschließungs- und Energiekosten sowie Platz – jeder, der eine kleine Wohnung einrichten und deshalb Möbel in die Höhe bauen musste, weiß das.
Dass seit dem Tempelhofer Feld ausgerechnet die „ökologisch gesinnten“ Grünen gegen Hochhäuser polemisierten, ist nur noch ein schlechter Witz. Was wäre denn die Alternative? Dass die „bürgerliche“ Grünen-Häuslebauer-Klientel, wie seit Jahren geschehen, weiter mit ihren „Townhouses“ als innerstädtische Reihenhäuschen die Gegend schön flach und breit an breit zubetoniert? Auch diese Orte waren früher Freiflächen und „Frischluftschneisen“.
Diese bigotten Townhouse-Eigenheime mit Terrasse oder Balkonen der meist süddeutschen Mittdreißiger-Familiengründer wären früher in der Provinz entstanden. Nun sitzen die Neuberliner Besitzer in ihren Townhouses wie Hühner auf der Stange nebeneinander und sind ganz stolz darauf, beides verbunden zu haben: das süddeutsche kuschelige Eigenheim-Provinz-Gefühl mit den Vorzügen der Metropole (Kitas, Kultur, nette Cafés, kurze Wege, tolle Jobs).
Die Wohn-Kluft wird immer größer: Hier die üppigen, überdimensionierten Eigentumswohnungen, die wie Pilze aus dem Boden schießen, dort karnickelstallähnliche, überteuerte Eigentums-„Studentenapartments“. Einkommensschwache Familien, die aus der Innenstadt weichen oder immer enger zusammenrücken. Und nebenan Flüchtlinge, die in provisorischen Zelten oder Turnhallen hausen müssen. Dieses nicht nur finanziell reiche, sondern auch an Flächen reiche Land sollte sich buchstäblich in Grund und Boden schämen.
Im gerade hippen Neukölln, am Tempelhofer Feld, findet man inzwischen mehr schwäbische Jung-Zuzügler als Berliner oder Migranten. Und natürlich möchten die Neu-Neuköllner ganz entspannt kilometerweit über ihr Tempelhofer Feld radeln. Die Neuköllner Eigentumswohnung hat meist der westdeutsche Papa bezahlt. Dazu braucht man natürlich auch noch ein bisschen „Frischluftschneise“. Die ist zwar jeden Sommer total vertrocknet, weil es auf dem Tempelhofer Feld keine schattenspendenden Bäume gibt, und man erstickt dort, wenn im Sommer die Sonne bei über 30 Grad brennt. Aber laut Aktivisten wurde „damit eine Frischluftschneise für Berlin erhalten, die wir in Zeiten des Klimawandels und heißer werdender Sommer dringend benötigen“. Da wälzt sich jeder Gärtner oder Förster vor Lachen am Boden.
Wenn ich eine Frischluftschneise brauche, die zugleich weitgehend touristenfrei ist, gehe ich lieber mit meinen Kindern in die „Gärten der Welt“ nach Marzahn.
Zur Lösung des innerstädtischen Bau- und Grün-Konflikts möchte man den Grün- und Eigentumsfreunden empfehlen: Baut Baumhäuser! Ist grün, ökologisch, kinderfreundlich, platzsparend und kostet keine Miete. Na gut, auch nicht ganz so luxuriös … Man muss nur aufpassen, dass der Baum nicht zusammenbricht – manchmal sind die Schätzchen nicht mehr ganz standsicher. Man kann sie liebhaben, streicheln und umarmen, aber auch Bäume sterben irgendwann. Wie Menschen. It’s nature.
Schlagwörter: Berlin, Liegenschaftspolitik, Senat, Tempelhofer Feld, Ulrike Steglich, Vermietermarkt, Wohnungsbau