von Günter Hayn
Am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin ermittelt regelmäßig das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) Daten zur Einkommensungleichheit und Armutsforschung. Im Herbst 2014 veröffentlichte das Institut in einem Wochenbericht eine Analyse der Vermögensverhältnisse in Deutschland. 2012 belief sich das Nettovermögen aller Privathaushalte in Deutschland demnach auf 6,3 Billionen Euro, vor allem in Form von Grund- und Immobilienbesitz (5,1 Billionen). Erfasst sind allerdings nicht alle Vermögenswerte: Die SOEP-Erhebung der Nettovermögen beinhaltet nicht den Hausrat und die Fahrzeuge privater Haushalte. Da die Daten auf der Basis demoskopischer Stichprobenerhebungen (allerdings bei einer stabilen Befragtengruppe) gesammelt werden, sind die Vermögen der Milliardäre und Multimillionäre auch nicht erfasst. Dennoch ergab sich für 2012, dass die Vermögensungleichheit in Deutschland erheblich zugenommen hat. Inzwischen besitzen 27,6 Prozent aller Privatpersonen in Deutschland nichts. Das reichste Zehntel der im Lande Lebenden verfügt auf der Grundlage dieser Daten über ein Vermögen von durchschnittlich 217.000 Euro pro Person, das reichste Prozent über 817.000 Euro. Der statistische Mittelwert liegt bei 83.000 Euro. In Westdeutschland liegt der Durchschnittswert allerdings bei 94.000 Euro, im Osten hingegen bei 41.000 Euro. Die Bundesrepublik ist somit das Land mit der höchsten Ungleichheit in der Euro-Zone.
In der Tendenz wird sich diese nach den DIW-Analysen verfestigen. Trotz des allgemein zu konstatierenden Vermögenszuwachses haben vor allem die Arbeitslosen „signifikant Vermögen eingebüßt“, wie Markus Grabka – mit Christian Westermeier Autor der Studie – feststellte. Schuld seien die Hartz-IV-Regelungen, „weil der Bezug dieser staatlichen Transferleistungen erst dann möglich ist, wenn bis auf ein geschütztes Schonvermögen kein nennenswertes Vermögen“ mehr vorhanden sei. Vor allem mit dem Nahen des Rentenalters kämen „problematische“ Zustände auf uns zu, da die „Zahl von Personen mit negativem Nettovermögen“ signifikant gewachsen sei. Das gegenwärtige System geht davon aus, dass durch „Riester“ und Bausparverträge „die Lücken in der gesetzlichen Rentenversicherung geschlossen werden können.“ Real müsse das angezweifelt werden. Auch hier wirkt die Ost-West-Schere nachhaltig. Grabka und Westermeier schätzen ein, dass insbesondere Ostdeutsche mit ihrem privaten Vermögen dem „ansteigenden Risiko der Altersarmut […] kaum begegnen“ könnten.
Die DIW-Analysen werden vom Paritätischen Wohlfahrtsverband bestätigt, der im Februar unter dem Titel „Die zerklüftete Republik“ seinen Bericht zur regionalen Armutsentwicklung in Deutschland 2014 vorgelegt hat. Der „Paritäter“ beziffert die Armutsquote im Lande inzwischen auf 15,5 Prozent (2006: 14,0 Prozent), das sind rund 12,5 Millionen Menschen. Entgegen allen Beteuerungen der Bundesregierung sieht der Verband „einen klaren Aufwärtstrend“ im Abwärts. 58,7 Prozent aller Erwerbslosen sind arm, 42,3 Prozent aller Alleinerziehenden auch. Entsprechend steigt die Quote der Kinderarmut: von 2012 zu 2013 um 0,7 Prozent auf 19,2 Prozent! Auch bei Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss und/oder Migrationshintergrund liegt die Armutsquote bei rund 30 Prozent. „Unter dem Strich weisen damit Alleinerziehende, Erwerbslose und Personen mit niedrigem Bildungsabschluss nicht nur geradezu exorbitante Armutsquoten auf. Im Gegenteil: Es ist offensichtlich im Verlaufe der letzten Jahre auch nicht gelungen, ihr Armutsrisiko zu vermindern, es nahm sogar zu.“ Das Fazit der Autoren des Armutsberichtes 2014 ist ernüchternd.
Zudem muss festgestellt werden, dass sich die Armutsentwicklung in Deutschland längst von der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung abgekoppelt hat. Der Wirtschaft geht es gut: 2006 betrug das Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2,39 Billionen Euro, 2013 lag es bei 2,81 Billionen (gegenüber 2012 war das ein Anstieg um über 60 Milliarden Euro, 2014 liegt es bei rund 2,9 Billionen Euro). Die Armutsquote wuchs dagegen von 14,0 Prozent auf 15,5 Prozent – obwohl die Arbeitslosenquote im selben Zeitraum von 10,8 auf 6,9 Prozent fiel! Der zunehmende Reichtum geht also mit einer wachsenden Ungleichverteilung einher. Deutlicher lässt sich das Versagen von Politik nicht feststellen.
Die Befunde von DIW und Wohlfahrtsverbänden ähneln sich. Übrigens verweisen Letztere auch auf die in Richtung einer sozialen Katastrophe driftende Entwicklung der Altersarmut: Sie liegt aktuell bei 15,1 Prozent, aber „keine andere Bevölkerungsgruppe zeigt eine so rasante Armutsentwicklung“.
Auch in der geografischen Verteilung der Armut zeigen sich jenseits der Sonntags- und Plenarreden von Bundes- und Landespolitikern jeder Couleur Kontinuitäten: Unrühmlicher Spitzenreiter ist das Bundesland Bremen. Dort muss inzwischen jeder vierte Einwohner als arm eingestuft werden (24,6 Prozent), dicht darauf folgen Mecklenburg-Vorpommern (23,6 Prozent), Berlin (21,4 Prozent – der Anstieg erfolgt in der Hauptstadt seit 2006 ungebremst!) und Sachsen-Anhalt mit 20,9 Prozent. Sieht man etwas genauer hin, so zeigen sich auch in den ehemaligen industriellen Ballungszentren Westdeutschlands ähnliche, teils mit erheblicher Beschleunigung ablaufende Entwicklungen. Nordrhein-Westfalen hat inzwischen eine Armutsquote von 17,1 Prozent! Noch dramatischer sieht es in einigen Großräumen aus. Im Ruhrgebiet stieg die Quote von 15,8 Prozent 2006 auf 19,7 Prozent 2013. Das ist ein Anstieg um 25 Prozent (im Bundesdurchschnitt liegt dieser bei „nur“ 11 Prozent). Beängstigend ist die Situation im Gebiet Köln/Düsseldorf: Die Armutsquote stieg hier um sage und schreibe 31 Prozent!
Etwa zeitgleich veröffentlichte das DIW eine neue Untersuchung zum Reichtum in Deutschland, da man sich der Schwächen des SOEP-Materials durchaus bewusst ist. Eine Korrektur der weiter oben zitierten Daten vom Herbst 2014 brachte überraschendes zutage: Unter Einbeziehung der Vermögen der Milliardäre muss von einem Nettogesamtvermögen in deutscher Privathand von aktuell 9,3 Billionen Euro (das ist mehr als das Dreifache des BIP 2013!) ausgegangen werden. Die Daten können nur geschätzt werden, da eine präzise Berechnung aufgrund der in Deutschland seit 1997 ausgesetzten Vermögensbesteuerung nicht möglich ist. Das reichste eine Prozent der Bevölkerung besitzt jedenfalls real ein Drittel des Nettoprivatvermögens in Deutschland, die reichsten zehn Prozent halten 63 bis 74 Prozent. Die Tendenz ist auch hier steigend. Der Milliardärsbericht 2013 des US-Magazins Forbes nannte 55 deutsche Dollar-Millionäre, die allein über rund 230 Milliarden Euro verfügten.
Wie gesagt, 27,6 Prozent aller Menschen in Deutschland besitzen nichts, viele davon – aufgrund ihrer teils hohen Verschuldung – weniger als nichts. Ein Narr, wer davon ausgeht, hier gäbe es in naher Zukunft keine kritische Masse, die nur den berühmten kleinen Funken benötigt…
Es gehört in den Bereich der Mythen verwiesen, dass teilreformerische Politik-Ansätze, zum Beispiel im Bildungswesen, hier Wesentliches ändern könnten. Die bundesdeutschen Eliten rekrutieren den eigenen Nachwuchs zunehmend aus sich selbst. Kamen in Deutschland im Jahre 1991 noch 21 Prozent der Studierenden aus Familien mit einem „niedrigen“ Bildungsstand, so waren es 2012 nur noch 9 Prozent. Der Studierendenanteil aus Familien mit gehobenem und hohem Bildungsstandard entwickelte sich zeitgleich von 36 auf 50 Prozent.
Noch drastischer wird das Bild, sieht man auf die Rekrutierung des akademischen Oberbaus. Im neuen deutschland kam dieser Tage die Paderborner Wissenschaftlerin Christina Möller zu Wort. Möller hatte recherchiert, dass 60 Prozent der in Nordrhein-Westfalen neu berufenen Professoren aus einem akademischen Elternhaus kommen. Insbesondere bei Juristen und Medizinern gäbe es „kaum soziale Aufsteiger“: „Es geschehen bereits im frühen Bildungssystem an allen Übergangsstellen soziale Selektionen nach der Herkunft. Das heißt, je höher die soziale Schicht, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, ein Studium zu beginnen und anschließend eine Promotion zu verfolgen.“ Das roll back in eine Klassengesellschaft neuen Typs läuft auch in Deutschland auf Hochtouren.
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