von Alfons Markuske
Die Liebe hatte sich mit vielem anderen
Menschlichen verflüchtigt.
Lidia Ginsburg
„Eine Erzählung von Mitleid und Grausamkeit“
Zu den monströsesten Verbrechen Nazi-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg wie auch der Kriegsgeschichte überhaupt zählt die nahezu 900 Tage währende Blockade Leningrads durch die Wehrmacht und ihre finnischen Verbündeten (8.9.1941 – 27.1.1944) – mit dem Ziel, die Bevölkerung der Millionenstadt durch Hunger zu vernichten und die Stadt selbst danach dem Erdboden gleich zu machen. Die britischen Journalistin und Expertin für osteuropäische Geschichte, Anna Reid, hat den Verlauf und die Folgen dieser Blockade in einem vor wenigen Jahren publizierten, auch im Blättchen rezensierten Buch monographisch nachgezeichnet.
Was auch den nach dem Untergang der Sowjetunion in russischen Archiven neu zugänglich gewordenen Quellen dabei nur in Ansätzen und mehr oder weniger summarisch zu entnehmen war, sind die damaligen individuellen Alltagserfahrungen und -leiden der überwiegenden Mehrheit der Leningrader Bevölkerung, die nicht zur Nomenklatura gehörte und keine bevorzugte Behandlung seitens der Behörden erfuhr, also jener Menschen, von denen allein in den Monaten von Dezember 1941 bis Juni 1942, als die Lebensmittelknappheit am größten war, über eine halbe Million verhungerte.
Die Schriftstellerin Lidia Ginsburg (1902 – 1990) war einer dieser Menschen. Sie hatte sich nicht, wie viele andere Intellektuelle und Künstler, evakuieren lassen, weil sie ihre alte Mutter nicht sich selbst überlassen wollte. Erst Jahrzehnte später veröffentlichte sie ihre „Aufzeichnungen eines Blockademenschen“ über das Leben in der abgeriegelten Stadt.
„Was ist ein Blockademensch?“, fragt der Klappentext der hier in Rede stehenden Ausgabe – und antwortet: „ Es ist jemand, der langsam und in vollem Bewusstsein an Hunger und Kälte zugrunde geht: nicht im Lager, sondern in der Stadt, unter den Arbeitskollegen, im Kreis der Familie, in den Wohnungen […].“ Ginsburgs Bericht illustriert dies über weite Strecken im Stile der eines wissenschaftlich distanzierten Verhaltensforschers, der seine empirischen Beobachtungen in der Feldforschung zusammenfasst – wohl ein Selbstschutzmechanismus, um das durchlebte Grauen zu sublimieren: „In der Phase extremer Auszehrung wurde klar: Das Bewusstsein schleppt den Körper mit. Der Automatismus der Bewegungen, das Spiel der Reflexe, die unmittelbare Korrelation mit dem psychischen Impuls – all das gab es nicht mehr. […] Monatelang schliefen die Menschen […], ohne sich auszuziehen. Sie verloren ihren Körper aus dem Blick. […] Die Ungeduld des Hungers bezwang die Angst vor der Kälte. […] Es ist diese Verdrängung von Leid durch Leid, diese irrsinnige Zielstrebigkeit Unglücklicher, die erklärt […], weshalb Menschen in Einzelhaft, im Arbeitslager, in größter Armut und Erniedrigung leben, während sich ihre Mitmenschen in komfortablen Villen ohne ersichtlichen Grund eine Kugel durch den Kopf jagen. […] Weshalb war der Hunger (die Deutschen hatten das begriffen) der stärkste Gegner dieser Widerstandskraft? Weil Hunger permanent gegenwärtig ist, sich nicht abstellen lässt. […] am qualvollsten, am schlimmsten ist er während des Essens, wenn sich das Essen mit entsetzlicher Geschwindigkeit dem Ende nähert, ohne den Hunger zu stillen.“
Erst im Nachlass der Schriftstellerin wurde im Jahre 2006 „Eine Erzählung von Mitleid und Grausamkeit“ aufgefunden. Während die „Aufzeichnungen eines Blockademenschen“ noch eine verallgemeinernde Darstellung des Geschehens waren, verarbeitet Ginsburg in dieser Erzählung – künstlerisch kaum verfremdet – das gemeinsame Vegetieren mit ihrer Mutter und deren Verlöschen im Blockadealltag. Was da geschildert wird, ist die Apokalypse einer ebenso unaufhaltsamen wie unerbittlichen und umfassenden Deprivation aller menschlichen Lebensbereiche, Lebensfunktionen und all dessen, was den Menschen aus dem Tierreich erhebt – einer Deprivation, die auch engste verwandtschaftliche und zwischenmenschliche Beziehungen sukzessive zerstört. Lidia Ginsburg hat darunter lebenslang gelitten und ob des Todes der Mutter eine so untilgbare Schuld und Scham empfunden, dass sie selbst diesen Text nicht publiziert hat. Ihre Erzählung ist, wie Karl Schlögel in seinem Nachwort sagt, eines „der Werke, die uns sprachlos zurücklassen“.
Lidia Ginsburg: Aufzeichnungen eines Blockademenschen, Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 241 Seiten, 22,95 Euro.
Schlagwörter: Alfons Markuske, Blockade, Leningrad, Lidia Ginsburg, Zweiter Weltkrieg