18. Jahrgang | Sonderausgabe | 9. Januar 2015

Sozialismus ohne Vierfruchtmarmelade

von Uwe Steimle

Die Anfrage vom Blättchen, ob ich Lust hätte, „mit einem Beitrag unsere Sonderausgabe zum 125. Geburtstag von Kurt Tucholsky zu bereichern“, schmeichelte mir, ich gestehe es: Kurt Tucholsky – unübertroffener Meister des treffsicheren Angriffs mit dem dialektischen Florett in den politischen Kämpfen seiner Zeit und auch Kabarettisten ein Leitstern bis in unsere Tage und darüber hinaus! Wow!
Ich rief mich sofort zur Ordnung: „Uwe, jetzt nicht abheben!“
Bisschen schräg war die Anfrage im Übrigen auch: Ob ich mir vorstellen könne, den Beitrag „um einen Begriff zu stricken“, der bei Tucholsky gar nicht oder nur spärlich Erwähnung gefunden habe.
Fast schon befremdlich, was die Berliner Kollegen zur Auswahl anboten: Axolotl (keine Erwähnung bei Tucholsky), Nemesis (eine Erwähnung), Marmelade (zwei Erwähnungen).
Befremdlich aber nur solange, bis ich las, was Tucholsky über „Marmelade“ zu Papier gebracht hatte:

„[…] was es immer zu fressen gab?
Alle (nach der Melodie ‚Deutschland, Deutschland über alles‘): Marmelade – Marmelade – Marmelade –!“

Kaspar Hauser: Überführung,
Die Weltbühne, Nr. 10/1922.

Und etwas ausführlicher:

„Ein Soldat hatte niemals frei. Wenn grade kein Appell war und kein Sturmangriff und keine Halsbindenrevision und kein Postenschieben und kein Essensempfang und kein Parademarsch, dann döste er so herum und spielte manchmal Mundharmonika. „Wir waren einmal Menschen“, sang der kleine Holzbalken mit dem Metallgebiß, „wir sind es zur Zeit nicht mehr. Tralala – Gestern abend hat es Marmelade gegeben, und heute abend wird es auch wieder Marmelade geben – tralala –.“

Kaspar Hauser: Harmonika,
Die Weltbühne, Nr. 37/1927.

Im ersten Weltkrieg war also nicht nur millionenfach verreckt worden, sondern es hatte zugleich auch ein hohes Maß an Wahrscheinlichkeit bestanden, dass zuvor keine angemessen genussvolle Henkersmahlzeit verzehrt werden konnte, sondern lediglich – Marmelade.
Da fiel mir als gelerntem DDR-Bürger natürlich sofort das kulinarische ostelbische Pendant ein – die berühmt-berüchtigte real-sozialistische Vierfruchtmarmelade aus Tangermünde und ihre natürlich gänzlich andere historische Rolle im ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden.
Aber solches zu Tuchos Geburtstag?
Doch warum nicht? Brechts „Teppichweber von Kujan-Bulak“ zumindest hätten wohl nichts dagegen gehabt, denn auch sie ehrten – in diesem Fall Lenin –, „indem sie sich nützten, und hatten ihn / Also verstanden“.

*

Schon bei der Frage, ob der Ort Tangermünde überhaupt auf der Landkarte liegen könnte und wenn ja, dann wo, kommt ein richtscher Sachse ins Grübelschwitzen. Wo also liegt Tangermünde und weshalb? Vor allem: Was soll ich als Dresdner dort? 24 Stunden fern der Heimat zu sein, ist für mich schon eine Zumutung, da fremdle ich längst. Weshalb soll ich in die Ferne reisen, vor meiner Haustür in Dresden ist alles vorhanden.
Will ich Berge sehen, fahre ich auf den Borsberg, auf den Weißen Hirsch oder in die Pillnitzer oder Radebeuler Weinberge. Manche lachen, mir reicht‘s.
Wenn ich vom Berge weit in die Landschaft guggen möchte pilgere ich nach … jetzt dürfen sie raten …, genau nach: nach Wehlen. Von hier aus können sie außerdem vor dem Guggen oder danach: klettern, kraxeln, hangeln, pofen. Sogar den Lux können sie beobachten in Ostrau im Gehege, wenn er ihnen denn ins Gehege kommt und nicht vorher das Weite sucht, weil der Maschendrahtzaun ein Loch hat.
Tangermünde, die Stadt wo die Tanger in die Elbe mündet. Dieser mehr als 1.000 Jahre alte Ort liegt auch an der Elbe, wie mein Elbflorenz. Gut: die Elbe verbindet uns.
Weshalb soll ich von Tangermünde erzählen? Ganz einfach: es gibt einen Sendeauftrag! „Erzählen Sie Heimat, möglichst spannend, originell und einmalig.“
Genau dazu lädt Angermünde ja ein, Verzeihung Tangermünde.
„Steimles Welt“ (eine Senderreihe des MDR – Anmerkung U.S.) soll also auch in der altehrwürdigen Kaiserstadt halten. Hier an der Peripherie Mitteldeutschlands wohnen Menschen. Auch sie wollen wahrgenommen werden, im 25. Jahr nach der Kehre.
Was also liegt näher, als fernab meiner Heimatstadt das Fachwerkstädtchen zu erobern. Zauberhaft. Einfach zauberhaft, dieses Städtchen. Zauberhaft.
Und dann endlich fiel mir ein, worüber gesprochen werden muss: über die Vierfruchtmarmelade.
Da die ganze Republik vor 25 Jahren zentralistisch geregelt wurde, galten diese Regeln auch für Marmelade. Allseits gebildete sozialistische Persönlichkeiten sollten natürlich auch einen einheitlichen Geschmack entwickeln.
Übrigens in Mühlhausen, in Thüringen, standen die Kochkessel für den Pflaumenmus der DDR.
Die SED, Sozialistische Einheitsmarmelade Deutschlands, einheitlich wohlschmeckende Zwei-bis Dreifruchtmarmelade für das ganze Land, wurde zentral gerührt in Tangermünde.
Meine Mutti sagte, wenn Omis individuell gerührter Pflaumenmus zur Neige zu gehen drohte: „Uwe, ab in die Kaufhalle, wir brauchen noch was Süßes auf die Schnitten zu schmieren!“
So lag Tangermünde für mich im Regal um die Ecke.
Während es im Westen bereits Nutella mit ohne Nüsse gab, experimentierten die Genossen der Marmeladenindustrie sogar schon an der Fünffruchtmarmelade, wahrscheinlich zu Ehren des 25. Jahrestages der Republik.
Kirsche, Pflaume, Apfel, Johannisbeere und Birne, das alles zusammengehalten durch Geliermittel in solcher Konsistenz und Stärke, dass meine Oma oft bemerkte: „Die Marmelade läuft nicht wie geschmiert, die musste hacken.“
Ich habe nicht vergessen, wie die Marmelade schmeckte. Was für Früchte drin waren, konnte jedoch am Geschmack niemand erkennen. Ich behaupte, auf dem Etikett der gelben Marmelade waren Pfirsiche, Äpfel, Birne und Stachelbeeren genannt. Gab es nicht auch rote Marmelade? In meiner Erinnerung ja, aus Äpfeln, Kirschen und Stachelbeeren … oder …?
Großabnehmer wie Armee, Großbetriebe, Krankenhäuser, Kinderferienlager, Kindergärten und Ferienheime bekamen den Marmeladenhack gleich in riesengroßen Pappeimern geliefert, die wenn sie leergefuttert waren, als Kohleeimer verwendet wurden. Das ist nachhaltig und sinnvoll, fast schon „Grün“.
Not macht erfinderisch.
Tangermünder Zwei- bis Vierfruchtmarmelade – von wegen keine Auswahl in der DDR! – konnte verwendet werden als Brotaufstrich, Kohleanzünder, bei entsprechender Lagerung auch als Mordinstrument. „Mit dem Zeug kannste och wen erschlagen“, wusste mein Vati zu berichten.
25 Jahre nach der Kehre suche ich nach Spuren dieser sogenannten sozialistischen Köstlichkeit.
Was darf ich stolz verkünden? Ja! Es gibt sie noch! Die Erinnerung kann verklärter nicht sein.
Meine Aufgabe als Reisender ist ja, mit einer Art Transmissionsriemen die Gedankenerinnerungswindungen anzuschieben, damit in Gang kommt, was in Gang kommen soll.
Es reizt mich eben doch, die DDR anhand der Vierfruchtmarmelade zu erklären.
Andere erzählen, dass prinzipiell und zu jeder Zeit, alle DDR-Bürger heim ins Reich BRD wollten …
Ich, als Überlebender der Wende und als Aktivteilnehmer der friedlichen Revolution weiß noch genau, welcher unser aller Kollektivwunsch in den ersten vier bis acht Wochen nach dem 7. Oktober 1989 war: ein demokratischer und wirklicher Sozialismus – mit ohne Vierfruchtmarmelade.