von Holger Politt
Irgendwo schrieb Rosa Luxemburg, die Kommunisten seien die Sozialisten von einst gewesen. Sie wollte ihren Lesern in Polen helfen, den Titel „Manifest der Kommunistischen Partei“ besser erfassen zu können. Jahre später, inzwischen war der Erste Weltkrieg beendet worden, den nicht nur Rosa Luxemburg als tiefsten Absturz in die Barbarei gegeißelt hatte, wurde sie gleich zweifach mit der Gründung einer neuen Arbeiterpartei konfrontiert – in Deutschland und in Polen. Den Stab über die alte Sozialdemokratie hatte sie in den Kriegszeiten gebrochen – nichts war gründlicher in der Analyse, nichts radikaler in den Konsequenzen als die „Krise der Sozialdemokratie“. Später konnte deshalb leicht behauptet werden, die Krönung des politischen Lebenswerks von Rosa Luxemburg sei die Gründung der Kommunistischen Partei gewesen. Auch nach dem ruhmlosen Ende des Marxismus-Leninismus, der ja in all seinen Varianten ohne die Existenz der Sowjetunion gar nicht zu denken gewesen war, hält sich diese Legende zäh. Wie viel Rosa Luxemburg in der „Krise der Sozialdemokratie“ allerdings vom Erbe der alten Sozialdemokratie zu retten suchte, fällt dabei unter den Tisch.
Bevor Rosa Luxemburg an der Wiege zweier kommunistischer Parteien ein neues Kapitel der europäischen Arbeiterbewegung aufzuschlagen suchte, war sie viele, viele Jahre lang überzeugte Sozialdemokratin gewesen. Ihr Werdegang in der SPD ist hierzulande besser bekannt, ihr Wirken unter polnischen Sozialdemokraten wird meistens an den Rand geschoben, wenn nicht gar ignoriert. Das nimmt auch nicht Wunder, vergleicht man die erfolgreiche und starke Millionenpartei in Deutschland mit der klitzekleinen SDKPiL, die daheim im zu Russland gehörenden Königreich Polen nur wenige Tausend Mitglieder zählte und in tiefer Illegalität wirkte. Nur während der Revolution von 1905/06 schnellte der Mitgliedsstand auf die Zahl einiger Zehntausend hoch, eroberte sich die Partei in den blutig ausgetragenen und gewaltigen Klassenschlachten in den Industriezentren Polens Masseneinfluss. Damals schrieb Rosa Luxemburg im Gefängnis in Warschau den apodiktischen Satz, wonach die Taktik der Sozialdemokratie immer revolutionär sei.
Anders als die SPD versuchte sich die kleine SDKPiL auch während des Ersten Weltkriegs, den sie als imperialistischen Krieg beider Seiten begriff, daran zu halten. So gesehen wäre hier nicht einmal ein Grund vorhanden gewesen, die Sozialdemokratie zu verlassen – im Gegenteil. Dass sie mit dem radikalen Abschied von der Sozialdemokratie auch ihre eigene Partei in Polen opferte, hing noch mit anderen Fragen zusammen, die in erster Linie die inneren Bedingungen der Arbeiterbewegung in Polen und das Verhältnis zur russischen Bewegung betrafen. Letztendlich gab die zentrale Position der SPD in der damaligen sozialdemokratischen Bewegung den Ausschlag.
Die Revolution von 1905/06 hatte Rosa Luxemburg folgerichtig als wichtiges Ereignis begriffen, um die Arbeiterbewegungen im Westen und im Osten Europas wirksamer zusammenzubringen. Einerseits sollte durch den von der Arbeiterbewegung geführten Kampf um volle politische Freiheiten und die demokratische Republik im Riesenreich der Anschluss an die lange und durch Klassenkämpfe geprägte demokratische Tradition der Bewegung im Westen geschafft werden, andererseits brauche die Bewegung im Westen neue revolutionäre Impulse – etwa durch das Instrument der politischen Massenstreiks und bedingt durch die schlagartig wachgerufene Erinnerung an die eigenen, oft genug blutigen Wege zur politischen Freiheit.
Wie fest das Freiheitsmotiv im revolutionären Denken Rosa Luxemburgs verwurzelt war, mag folgender Gedanke veranschaulichen, den sie in Warschau formulierte, als der Sieg der Revolution ihr zum Greifen nahe schien: „Wenn die erste Bedingung für die Bewusstwerdung des Proletariats das Erzwingen von Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit aus den Händen der [Zaren-] Regierung ist, so ist die zweite Bedingung die schonungslose Nutzung dieser Freiheit, die völlige Freiheit von Kritik und Diskussion in den Reihen der kämpfenden Arbeiter. Meinungs- und Pressefreiheit ist die eine Bedingung, damit das Proletariat Bewusstsein erlangen kann, die andere aber ist, dass das Proletariat selbst sich keine Fesseln anlegt, dass es nicht sagt, darüber dürfe nicht diskutiert werden und darüber nicht.“
Im Dezember 1918 wurde Rosa Luxemburg in Berlin von Henryk Walecki aufgesucht, der sie über den Stand der Vorbereitung der neuen Partei in Polen unterrichtete. Wie im deutschen Fall ging es dabei auch um den strittigen Namen. Wie Walecki 1934 in Moskau zu Papier gab, wenige Jahre bevor ihn dort die Henkersknechte holten, war Rosa Luxemburg im Dezember 1918 entschieden gegen den Namen „Kommunistische Partei“ gewesen. Sie schlug stattdessen „Revolutionäre Sozialdemokratie“ vor – ungeachtet der Tautologie, wäre sie ihrer eigenen Logik gefolgt, und fast trotzig, so als könne es sowieso keine andere richtige Sozialdemokratie geben. Auf jeden Fall, so Walecki, sprach sie sich entschieden, ja schroff gegen eine „Identifizierung“ mit den Bolschewiki aus, die sich bereits kommunistische Partei nannten.
Der Weg der Bolschewiki in den Parteikommunismus hat sich als geschichtliche Sackgasse erwiesen, die schließlich – nach der endgültigen Niederlage – nur in einer Richtung wieder verlassen werden konnte. In der „Tageszeitung“ las ich dieser Tage ein Interview mit einer jungen, engagierten Deutschen, die sich als Anhängerin Rosa Luxemburgs zu erkennen gab. Sie äußerte stolz, nach Rosa Luxemburg hätte es auch im Kommunismus „so etwas wie Meinungs- und Redefreiheit“ geben müssen. Das klingt, als handele es sich um eine eher nebensächliche Übung, so in der Art wie Facebook oder Twitter heute, was dummerweise im Kommunismus nicht genügend berücksichtigt worden sei. Zu erinnern bleibt aber, dass der Sozialismus, den in Europa der sowjetisch geprägte Parteikommunismus in die Welt brachte, zusammenzubrechen begann, als Arbeiter die einfache und unteilbare Meinungs-, Versammlungs- und Organisationsfreiheit forderten.
Schlagwörter: Demokratie, Holger Politt, Kommunismus, Rede- und Meinungsfreiheit, Rosa Luxemburg, Sozialdemokratie