von Wulf Lapins, Prishtina
Ein Gespenst geht um in Brüssel. Das Gespenst einer aufwachsenden russischen Einflussagenda auf dem Westbalkan, die sich dort mit aktiver Unterstützung bestimmter innenpolitischer Kräfte, zum Teil auch nur mit Schultern zuckender Hinnahme seitens der Regierungen, verstetigt. Der Spiegel zitiert hierzu aus einer Analyse des Auswärtigen Amtes: „RUS misst westlichem Balkan strategische Bedeutung zu.“ In dieselbe Kerbe schlug Bundeskanzlerin Angela Merkel am 17. November vor dem Lowy-Institut für Internationale Politik in Sydney, Russland dürfe kein Mitspracherecht bei EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, Moldawien und Georgien eingeräumt werden. „Wenn das so weitergeht, kann man sich fragen: Muss man bei Serbien fragen, muss man bei den Westbalkanstaaten fragen? Das ist jedenfalls nicht vereinbar mit unseren Werten.“
Die dahinter stehende zentrale Fragestellung lautet: Ist Russlands Engagement auf dem Westbalkan ein geopolitischer Schachzug und damit Teil von, wie es in der Zeit hieß, „Putins großem Plan“, oder verfolgt Moskau lediglich nüchtern seine ökonomischen Interessen und sicherheitspolitischen Belange? Russlands Positionsstärkung auf dem Westbalkan begann im Übrigen schon Jahre vor dem Ukraine-Konflikt. Diese wird nunmehr jedoch durch das Prisma der Krim-Annexion sowie der Unterstützung der ostukrainischen Separatisten gesehen und neu gedeutet. Und: Eine geopolitische Strategieausrichtung ist durch die machtgeographische Metadimension ungleich resistenter gegenüber Kompromissfindungen als ein kleinteiligeres Interessenrational.
Im Vergleich zum ressourcenreichen Zentralasien und zur Politik der dortigen Länder eignet sich der Westbalkan allerdings nicht zum geopolitischen Schachbrett. Alle Staaten hier haben seit 2003 eine klare EU-Beitrittsperspektive. Slowenien (2004) und Kroatien (2013) erreichten dieses Klassenziel bereits. Montenegro führt seit 2012 EU-Aufnahmeverhandlungen, Serbien steht kurz davor. Mazedonien (2005) und Albanien (2014) erhielten als letzte Vorstufe den Kandidatenstatus. Bosnien-Herzegowina (2008) wie auch Kosovo (2014) konnten immerhin Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit Brüssel abschließen.
In der nachstehenden Analyse soll aufgezeigt werden, welche tatsächlichen oder potenziellen Störreservoire gegen den Einigungsprozess der EU auf dem Westbalkan gleichwohl Russland zur Verfügung stehen und ob Moskau diese auch zu nutzen bereit ist. Plakativ zugespitzt: Spielt Russland dort nur Luftgitarre oder ist ein Hard-Rock-Auftritt zu erwarten?
Jede seriöse Einschätzung der russischen Westbalkan-Politik muss aus den vielen disparaten Informationen gesichertes Wissen generieren, um daraus belastbare, valide Erkenntnisse zu gewinnen. Und zugleich muss man bei diesem Vorgang sich des eigenen psychologischen Wahrnehmungsfilters stets bewusst sein, der für die Auswahl und Interpretation von Informationen verantwortlich ist. Erfahrungen sind zwar ein wichtiger Kompass, aber welcher Analytiker/Bewerter kann sich schon ganz von Vorurteilen und Stereotypen freisprechen?
Die Perzeptionen der EU-Mitgliedsländer werden durch das Paradigma des liberalen Institutionalismus mit seiner Orientierung auf Kompromiss, normative Wirkungsmacht von Multilateralismus sowie gesellschaftliche Emanzipation gedeutet und gesteuert. Spätestens seit der Krim-Annexion wird Russland demgegenüber als Protagonist mit einem anderen Koordinatensystem wahrgenommen. Schlüsselbegriffe dabei sind Prozess- und Optionsmacht, Nullsummendenken, Grenzen universaler politischer Moral und wachsende gesellschaftlicher Autoritarismus. Beide Politikmodelle sind nur schwer miteinander zu harmonisieren. So verwundert auch nicht, dass die von Außenminister Frank-Walter Steinmeier wahrgenommene vorsätzliche Unberechenbarkeit Moskaus im Ukraine-Konflikt auf europäische strukturelle Ratlosigkeit trifft. Reimt sich dies nun auch auf den Westbalkan?
Laut Spiegel sorgen sich deutsche Europapolitiker und die deutsche Außenpolitik, für Russland könnte sich in Serbien und über die Teilrepublik Srpska in Bosnien-Herzegowina über Propaganda und Kulturpolitik sowie in Verbindung mit einer panslawischen Bruderschafts-Rhetorik, ein potenzielles Einfallstor für die Beeinflussung EU-Ausrichtung der Staaten des Westbalkans öffnen. Als Indiz hierfür wird die erstmalige russische Stimmenthaltung im UN-Sicherheitsrat zur Verlängerung des EUFOR-Mandats in Bosnien-Herzegowina gewertet. „Russland begründete den Schritt damit, dass Bosnien nicht bedrängt werden solle, sich der EU anzuschließen“, meldete Die Zeit am 14. November 2014.
Für Florian Bieber, Zentrumsleiter für Südosteuropastudien an der Universität Graz, könnte eine russische konditionierte Blockadepolitik nach dem Motto handeln: „Wenn ihr uns unserem Einflussbereich Probleme macht, dann machen wir in eurem Einflussbereich Probleme.“ Jedoch hätten die Serben überhaupt keine Sehnsucht, das zunehmend obrigkeitsstaatliche russische Gesellschaftsmodells nachzuahmen. Ihre Sympathie schöpfe sich vielmehr aus der stabilen Unterstützung Belgrads durch Moskau, , die Souveränität von Kosovo nicht anzuerkennen und die Aufnahme Kosovos in die UNO zu blockieren.
Die kulturelle Verbundenheit ist aber durchaus eine gute Basis für Moskaus systematische und sehr umtriebige Public Diplomacy, die sich auf eine russische Radiostation, die breit aufgestellte Website von Russia Today und demnächst auch eine Fernsehstation sowie eine Filiale des Kreml-nahen Instituts für Strategische Studien stützt. Auf die Vehemenz russischer Interessenverfolgung in Serbien verwies kürzlich auch der ehemalige deutsche Botschafter in Belgrad, Hansjörg Eiff.
Wie in Montenegro, wo etwa ein Drittel der Unternehmen russischen Eigentümern gehört, so können auch Russlands Wirtschaftsinvestitionen und Einflussgewinnung im Bankensektor in Serbien durchaus als strategisch beurteilt werden. Bereits 2008 erwarb das russische Mineralölunternehmen Gaspromneft die Aktienmehrheit des serbischen ÖL-Monopolisten NIS und investierte in die Modernisierung. Gaspromneft wurde ein Jahr später zudem Mehrheitseigner des größten serbischen Gasspeichers Banatski Dvor und steuert damit die Gasreserven des Landes. Im Rahmen der für 2016 angestrebten Fertigstellung der Gas-Pipeline Southstream unter Federführung von Gasprom ist auf ihrer serbischen Abschnittslänge auch ein Verteilerknoten mit Gabelungen nach Bosnien-Herzegowina und Kroatien geplant. Gasprom stützt den klammen Belgrader Haushalt für den Pipeline-Bau mit 175 Millionen Euro. Dass Gasprom zugleich Gaslieferant wie auch Pipelinebetreiber sein würde, widerspricht EU-Energiebinnenmarktregeln. Bulgarien und Serbien haben daraufhin auf Weisung aus Brüssel, die wahrscheinlich mit Washington verabredet war, im Juni vorerst alle Bauarbeiten für Southstream eingestellt. Und am 1. Dezember erklärte Gazpromchef Alexej Miller: „Das Projekt ist vom Tisch. Das war’s.“
Weitere russische Investitionen betreffen die Verkehrsinfrastruktur (Eisenbahn), Industrieprojekte und die Rüstungskooperation für die Modernisierung der veralteten Bewaffnung der serbischen Streitkräfte. Im Mai schlossen beide Länder eine „strategische Partnerschaft.“ Hierzu wurden bei Putins Besuch am 16. Oktober – zum 70. Jahrestag der Befreiung Belgrads von der deutschen Besetzung – weitere „Abkommen über die militärtechnische Zusammenarbeit und den Schutz von geheimen Informationen“ unterzeichnet. Das betrifft im Klartext gemeinsame Militärübungen sowie den Austausch von Aufklärungsinformationen, in dessen Rahmen auch russische militärische Nachrichtendienstler im Katastrophenschutzzentrum auf dem Flughafen in Nis stationiert werden sollen.
Serbien lehnt als einziger EU-Beitrittskandidat die Sanktionen gegen Russland zwar ab. Aber für Belgrad bleibt der EU-Beitritt ein prioritäres Ziel. Nach Aussage von Außenminister Ivica Dacic habe Russland auch „nie Druck auf uns ausgeübt, denn wir haben immer deutlich gemacht, dass die EU-Mitgliedschaft unsere Freundschaft zu Moskau nicht beeinträchtigen wird“.
Fraglich ist zudem, ob das so feuerfest scheinende russische Wirtschaftsengagement auch konstant bleiben kann. Denn Serbien wird aller Voraussicht nach spätestens mit seinem EU-Beitritt das 2000 geschlossene Freihandelsabkommen mit Russland auflösen müssen. Im Ranking sind im Übrigen Italien und Deutschland unangefochten die entscheidenden Handelspartner auf dem Westbalkan, nicht Russland.
Slowenien, Kroatien und Albanien sind bereits NATO-Staaten. Mit Beitritten von Serbien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien würde das Bündnis seinen südlichen sicherheitspolitischen Ring entlang der Adriaküste und weiter im Mittelmeer über Griechenland bis hin zur Türkei schließen können. Im Hinblick auf reale oder eingebildete Einkreisungsängste ist das allemal eine sicherheitspolitische strategische Herausforderung für Russland. Und wer von Geopolitik überzeugt ist, der wird die Offenhaltung einer Option zur militärischen Machtprojektion an die Adria durch Verhinderung eines solchen Ringschlusses als das eigentlich treibende Moment der Moskauer Politik auf dem Westbalkan identifizieren.
Die reale Gemengelage ist allerdings widersprüchlich: Montenegro hat sich dem EU-Sanktionsregime angeschlossen und könnte bereits nächstes Jahr NATO-Mitglied werden. Griechenland hat dies für Mazedonien 2008 wegen des Namensstreits verhindert und blockiert ebenfalls seit Jahren aus denselben Gründen dessen EU-Beitrittsverhandlungen. Die Frage ist: Wie lange wird Skopje dennoch der euro-atlantischen Ausrichtung treu bleiben? Was Serbien anbetrifft – für dessen Ministerpräsidenten, Aleksandar Vucic, ist es „noch zu früh, die Frage der NATO-Mitgliedschaft irgendjemandem in Serbien zu stellen“. Das kann als eindeutige, diplomatisch verpackte Absage interpretiert werden. Und Bosnien-Herzegowina? Es liegt in Russlands sicherheitspolitischem Interesse, dass Sarajewos Teilnahme am NATO- Programm Partnerschaft für den Frieden (seit 2006) nicht final in den Allianz-Beitritt mündet.
Fazit: Deutsche Außenpolitik sollte die EU-Standards auf dem Westbalkan stärker fordern und fördern, NATO-Mitgliedschaften mitsteuern, aber nicht forcieren und Serbiens Russland-Bindungen durch kluge Diplomatie zum allseitigen Vorteil flankieren.
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