17. Jahrgang | Nummer 26 | 22. Dezember 2014

Arbeiter-Bewegung?

von Heino Bosselmann

Die Geschichte der Arbeiterbewegung hat nicht nur, aber besonders in Deutschland kulturbildend gewirkt. Orchestriert von den fulminanten Akkorden der Industrialisierung erschien mit der Maschinerie „von unten auf“ eine titanische Kraft, die erst im Akt langen Ringens ihr Selbstverständnis finden und ihr politisches Bewusstsein entwickeln konnte. Zur vermeintlich weltbefreienden Ideologie erfand sie sich eine adäquate Symbolik, zu ihren Aktionen eine eigene Literatur, Publizistik und Kunst. Kommunismus, das galt Millionen als Hoffnungsbegriff oder eben als in Europa umgehendes Gespenst, inspirierte jedenfalls nicht nur die Proletarier, sondern ebenso die Künstler und Intellektuellen aller Länder. Zur Idee der proletarischen Internationale und zu ihrem Anspruch, ökonomische und soziale Gerechtigkeit in einer Zeit krasser Ungerechtigkeit herstellen zu wollen, musste man sich zwangsläufig positionieren, so oder so. Dass nun gerade diejenigen Revolutionäre, die mit rousseauistischer Anthropologie und Marx’ politökonomischen Analysen gen Utopia aufbrachen, schließlich in einer Strafkolonie landeten, in deren Kommandobaracke Stalin, Mao, Pol Pot die Befehle gaben, ist eher philosophisch als politisch zu erläutern und hier nicht Anliegen.
Nicht nur Marx’ und Engels’ sprachgewaltiges „Manifest“ von 1848 ist Ausdruck der phänomenalen Arbeiterbewegung, Fritz Langs Film „Metropolis“ und die Graphiken der Käthe Kollwitz sind es auf andere Weise, dazu all das Liedgut, die Losungen und Plakate sowie ein neues urbanes Brauchtum und sogar die Mode der Schiebermütze. Was als sozialer Protest begann, wurde zu moralischem Anspruch und revolutionärer Ästhetik, ohne die die Moderne nicht zu denken wäre. Dies alles so blutvoll intensiv, dass das Neubürgertum schon beim Wort Revolution noch immer das Fürchten lernt und Reformen erwägt.
Dieses überaus reiche Erbe, das vom großen Drama der Auseinandersetzung zwischen den etabliert Privilegierten und dem neuen Selbstvertrauen der couragiert ihre Rechte einklagenden Proletarier kündet, sollte man vor Augen haben, wenn man die gegenwärtigen „Arbeitskämpfe“ betrachtet. – Abgesehen davon, dass die Soziologen den Begriff der Arbeiterschaft oder -klasse wohl nur noch als historische Kategorien führen, geht es in der Auseinandersetzung heutzutage offenbar lediglich ganz tradeunionistisch um den Abgleich von Prozenten, also um spießiges Gefeilsche und indigniertes Gequengel zwischen dem ganz großen und dem ganz kleinen Bourgeois, so dass dieser jenem weiter die Kreditraten gegen Zins abbezahlen kann.
Keine Frage, Tarifauseinandersetzungen sind notwendig und überlebenswichtig. Erstaunlich aber, welch einen Schwund die Kultur dieser einst leidenschaftlichen Auseinandersetzung verzeichnet, wie überhaupt der Leidenschaftsverlust im Politischen, in den rebus publicis, Kennzeichen des Zustandes der dämmernden Republik sein mag. Wo die Ideen fehlen, ja unter Ideologieverdacht stehen, da fehlen ebenso charismatischer Schwung und Ausdruck. Gut so, heißt es. Bitte kein Rückfall ins dramatische vorige Jahrhundert! Stattdessen bitte Diskursethik und neue Mitte!
Symbol dessen ist noch mehr als die rosarote Plastik-Streikweste die gewerkschaftliche Plastik-Trillerpfeife. Welches Medium könnte in bedauernswerterer Weise die vollständige Wortlosigkeit, ja gedankliche Legasthenie einer Truppe veranschaulichen, deren Vorläufer sich in Arbeiter-Bildungsvereinen Wissen erschlossen, Kampflieder sangen und ihre eigene Sprache fanden, indem sie eigene neue Zeitungen gestalteten!
Was für ein Abstieg doch vom Prometheus, der dem Olymp der Bosse trotzte, zu einem Haufen trillernder Zwerge, die sich aus der dargebotenen Tüte ihres Obmanns eine Spielzeug-Pfeife nehmen dürfen, „um ihrem Protest Ausdruck zu verleihen“, einem Protest, dessen Forderung ausschließlich noch in einer Prozentzahl besteht, auf die man sich in einem „Deal“ irgendwann einigt.
Ab und an wohl noch ein bisschen artig angemeldeter Streik, aber bloß nicht so wie im letzten kämpferischen Akt, dem tragischen Miners’ Strike in Nordengland 1984/85. In radikaler oder gedämpfter Variante hat sich seitdem der Thatcherismus zugunsten von Traumrenditen durchgesetzt, von denen angeblich etwas zum Nutzen aller durchsickern soll. So gibt es sicher noch die Bosse, wenngleich die smarter und besser trainiert erscheinen, aber nicht mehr den Arbeiter. Wer noch demonstriert, steht eher so rum und hält Bittgesuche hoch. Und trillert schrill. Wenn die Gerichte es überhaupt erlauben! Sonst lieber doch nicht. Sind doch alle für mehr Wachstum! Auf keinen Fall etwas Prinzipielles, schon gar keine Politik bitte! – Politischer Massenstreik – was war das noch für ein Wort! Daran entzündete sich die ganze Gesellschaft.
Erich Mühsams Revoluzzer, „im Zivilstand Lampenputzer“, der seinem revolutionären Impetus abschwört, indem er ein Buch darüber schreibt, „wie man revoluzzt / und dabei doch Lampen putzt“, erscheint geradezu bewegt gegen den Typus des behäbigen Gewerkschafters, dem über den Vergleich von Preisen hinaus die Gesellschaft ein ganz zufriedener Betrieb ist, solange nur eigene Konsumtionsbedürfnisse zu Lasten anderer günstig befriedigt werden können.
Nein, es geht nicht um eine Polemik für oder gegen die klassische Linke, sondern um die Beobachtung, dass sie von ihren Ursprüngen her abgestorben ist, dass sie kaum mehr existiert, sieht man von folkloristisch anmutenden Sonderformen ab, der verbürgerlichten Bioladen- und Freisitz-Fraktion am Prenzlauer Berg etwa, deren Klassenkampf sich auf Bruce Springsteen im iPod und verschiedene Varianten von „Nein-danke“-Aufklebern beschränkt. Hier und da wohl noch ein Professor, der auf kritische Theorie steht, Nachdenkliches publiziert und mit edel knitternden Hosen an Happenings teilnimmt. Gut, daneben existiert noch die pseudoradikale Subkultur der vermeintlichen „Antifa“-Aktivisten, die sich am Vorabend des 1. Mai weitgehend theorie- und sinnfrei zu Lasten der öffentlichen Hand mit der Polizei treffen, um ein innerstädtisches Geländespiel mit allerlei Kollateralschäden abzuhalten. Auch das zeugt ja eher von einem diffus-neurotischen Empfinden oder einer Art jugendlichem Lifestyle als etwa von Urteilskraft oder auch nur Mumm. Budenzauber im Bereich staatlicher Alimentierung, ohne vitale Ausdrucksformen, ohne markigen Text und ohne Bilder, die übers revolutionsromantische Graffiti hinausweisen.
Ansonsten: Alles postindustriell politische Mitte, also wohl Mittelmaß. Akzeptiert, das sichert Stabilität. Und somit ideellen Stillstand. Man hofft also auf eine große Theorie und das unsterbliche Prinzip Hoffnung. Wird irgendwo gekämpft, dann am ehesten in der Publizistik und Diskussion. Terry Eagleton und Eric Hobsbawm etwa blieben als erstklassige Intellektuelle konsequente Marxisten. Was Bewegung werden will, kommt schon wieder auf die Beine; was erledigt scheint, mag weiter wirken, so die Bedingungen dafür eintreten.