von Peter Liebers
Er verstehe sich als „Kind der späten DDR“, sagt Thomas Oberender am Konferenztisch in seinem Intendantenbüro des Hauses der Berliner Festspiele in Wilmersdorf. Der 1966 geborene Sohn einer Psychologin und eines Tierarztes hat im thüringischen Jena „eine gute intellektuelle Schule“ durchlaufen, so dass es ihm „immer klar war, dass ich raus komme“. Der Weg dieses Theatermannes, der seit Januar 2012 die Berliner Festspiele leitet, deren Auftrag lautet, eine vielfältige, attraktive Haupstadtkultur zu präsentieren, war alles andere als glatt. Und doch muten seine Stationen dorthin wie im Bilderbuch an.
Der Schriftsteller, Dramaturg und Leiter verschiedener Festivals – wie der Salzburger Festspiele oder der Ruhrtriennale – engagierte sich schon früh in der evangelischen Kirche seiner Heimatstadt ohne Christ zu sein. Die dabei erfahrene Akzeptanz über in der DDR zur Kirche hin besonders scharf gezogene ideologische Grenzen hinweg prägte sein weltoffenes Wesen, zudem hatte „die Mauer für mich Löcher – durch die Philosophie, durch Literatur“. So sei es „fast zwangsläufig gewesen“, dass Oberender später „in der Jungen Gemeinde gestrandet“ sei. „Dort lag ein Aroma von Freude und Kreativität in der Luft, das sonst nirgends zu schnuppern war“, erinnert er sich.
Oberender verschweigt nicht die Gefahren des Gespaltenseins, „dass man sagt: Der Staat, das sind die anderen“. Aber „die Nichtidentifikation mit dem System hat mir große persönliche Freiheit gegeben. Ich hatte immer den Kopf voller Pläne, die ich auch realisieren konnte.“ Dafür hatte er neben seiner Jenaer Gemeinde auch Vorbilder wie den Dramatiker Heiner Müller, und „um das Restriktive, Totalitäre des Landes nicht auszuhalten, war ich zu jung“, erinnert sich Thomas Oberender. Er verbrachte seine Jugend in den Zentren deutscher Geistesgeschichte Jena und Weimar und konnte schließlich trotz politischer Ausgrenzungsversuche 1988 doch noch in Berlin Theaterwissenschaften studieren.
In Cottbus hatte er sich während seiner Armeezeit mit Theaterbesuchen und durch das Schreiben fürs Theater gerettet und auch eine Überlebensstrategie geschaffen. Sein Studium an der Humboldt-Universität finanzierte Oberender mit Kritiken für Tageszeitungen. Die Jahre des Aufbruchs nach dem Fall der Mauer verhießen viel; Enttäuschungen konnte er für sich produktiv gestalten; so zum Beispiel die, dass der zu dieser Zeit in Ost und West hoch geschätzte Dramatiker Heiner Müller an der Hochschule der Künste Szenisches Schreiben lehren sollte. Ein Traum des zum Theater strebenden Mittzwanzigers. Aber Müller hatte offenbar anderes zu tun, und doch blieb Oberenders Entscheidung für dieses Studium ein Zugewinn, schließlich hatte er nach einem Abschluss in Theaterwissenschaften nun auch den eines kreativen Autors.
Eine Art künstlerische Heimat wurden die Berliner Bühnen. 1997 gründete Thomas Oberender in einer Zeit, da englische Dramatik in deutschen Theaterspielplänen Hochkonjunktur hatte, die Autorenvereinigung „Theater Neuen Typs“, die in Weiterführung von Rolf Hochhuths Idee von einem Autorentheater neue deutsche Stücke unter anderen von Theresia Walser, Moritz Rinke oder Lutz Hübner förderte und präsentierte.
Dass ein hochbegabter, zehn Jahre nach der Wende aber keineswegs cleverer Ostdeutscher mit 33 Jahren die Chance erhielt, mit dem renommierten, vor allem durch Klassikerinszenierungen profilierten Regisseur Matthias Hartmann in die Direktion des Bochumer Schauspielhauses einzutreten, war eine Sensation. Oberender spricht vom „Glück als Voraussetzung“ für solche Dreh- und Angelpunkte. Tatsächlich gelang es ihm als Chefdramaturg mit einem überwältigenden Repertoire von Klassikern wie Kleist, Lessing, Molière, Schiller, Shakespeare, Tschechow einerseits und Gegenwartsautoren wie Fosse, Falk Richter, Rinke, Botho Strauß, Turrini andererseits eine Bühne wiederzubeleben, die im Unterschied zu dem zuvor von Leander Haußmann veranstalteten Chaostheater im besten Sinne Avantgarde und Tradition zugleich verkörperte.
So wirkte der aus den neuen Ländern ins Welttheater aufgebrochene Thomas Oberender der sich an den deutschen Stadttheatern seit Mitte der 1990er Jahre entwickelnden aggressiven Atmosphäre entgegen und befriedete durch Stücke aus unterschiedlichen Epochen, verschiedener Generationen und Handschriften den erbitterten Streit zwischen Regie- und Autorentheater. Daneben entwickelte Oberender, der sich seit jeher auch essayistisch zu Fragen der Kunst zu Wort meldet, in Zusammenarbeit mit der Ruhruniversität Bochum eine Vorlesungsreihe zum Thema „Zukunft des Politischen“, mit der er auf den 11. September 2001 reagierte. Und er engagierte sich bereits vor gut zehn Jahren für die Begegnungen mit irakischer und arabischer Kultur durch Angebote in der Musik und Lyrik. Seine in der DDR gemachten Erfahrungen, mit den Mitteln von Kunst und Kultur zu gesellschaftlichen Konflikten Stellung zu nehmen, lassen Oberender „in den Momenten, wo wir das Gefühl haben, dass wir als Theater unbedingt verpflichtet sind, tagesaktuell eine Position, ein Gespräch zu beheimaten, das so schnell nicht in Kunst zu übersetzen ist“ aus fester Überzeugung handeln.
Noch heute fasst es der 48-Jährige als einen Glücksfall auf, wenn „ein Projekt“ entsteht, das von einem gemeinsamen Willen vieler Beteiligter getragen wird und Position bezieht. Wie viel Thomas Oberender an solchen gemeinsamen, interdisziplinären Projekten liegt, beweist der Umstand, dass er die Bochumer Zusammenarbeit mit Matthias Hartmann am Schauspielhaus Zürich 2005 fortsetzte, und auch als Schauspielchef der Salzburger Festspiele suchte und fand er Weggefährten, dieses weltweit bedeutendste Festival der klassischen Musik und darstellenden Kunst von 2006 bis 2011 im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne zu gestalten.
Die Entscheidung für die österreichische Kulturmetropole sollte für Thomas Oberender eine folgenschwere werden und seinen weiteren Weg entscheidend prägen. 2012 wurde er zum Intendanten der Berliner Festspiele berufen. Ein Festival, das in Zeiten des Kalten Krieges 1951 als Berliner Festwochen gegründet wurde und dessen Konzept Oberenders vielseitigen Interessen und Erfahrungen entspricht. Denn unter diesem Dach befinden sich eigenständige Festivals zur Musik, zum Theater, Tanz, zur Literatur und Bildenden Kunst. Für Oberender also „wie gemacht und ein Traum, an diesem Netzwerk mit zu flechten“.
Seitdem herrscht Aufbruchsstimmung bei den seit den 1990er Jahren in Routine und seligen Schlaf gefallenen Festspielen, für die er nach neuen Themen und Veranstaltungsformen sucht, um die traditionellen Bundesjugendwettbewerbe mit dem Jazzfest, der MaerzMusik, dem Theatertreffen und den Ausstellungen im Gropius-Bau produktiv zu verbinden. „Ich will, dass spürbar wird, dass die Kunstwerke, die wir hier zeigen, Probleme bewegen, die uns betreffen“, beschreibt Thomas Oberender sein Anliegen. „Kunst ist für mich eine eigene Form von Sprache. Mich interessieren Künstler, die eine Sprache neben der Sprache entwickeln“, und er versteht darunter eine Sprache, die sich von der des Alltags oder der Medien unterscheidet. Denn daraus „erfahre ich etwas über unsere Welt, ich sehe die Welt anders. Das kann Kunst.“
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