von Alfons Markuske
Flandern mit seiner Fläche von 13.522 Quadratkilometern ist nicht einmal halb so groß wie Brandenburg (aber mit 472 Einwohnern pro Quadratkilometer deutlich dränglicher besiedelt als die märkische Streusandbüchse mit ihren 82 Einwohnern pro …). Die räumlichen Distanzen im nördlichen Belgien sind daher recht überschaubar – von Antwerpen bis Gent etwa gelangt man mit dem Auto in einer knappen Stunde. Auch von Antwerpen nach Knokke-Heist an der Nordsee nahe der Grenze zu den Niederlanden ist es nicht weiter, und ein Abstecher ist zu empfehlen.
Die historischen Zeitläufte, insbesondere jene Periode, die man unter anderem bei Friedrich Schiller („Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung“, 1788) nachlesen kann, haben dazu geführt, dass Belgien fast ein Binnenland ist: Im Norden schieben sich die Niederlande so dicht an die französische Grenze heran, dass Belgien dazwischen lediglich über 68 Kilometer Küste verfügt. (Das entspricht dem Umfang der Müritz.)
Die für Besucher reizvolle Kehrseite der Medaille: Belgien hat sich schon Ende des 19. Jahrhunderts mit der Kusttram die längste Straßenbahnlinie der Welt beschert. Mit der kann die komplette Küste abgefahren werden – zum Teil direkt in der ersten Reihe, unmittelbar auf dem Strand, noch vor den Dünen.
Knokke-Heist ist der eine Endpunkt und De Panne der andere; eine Tour dauert etwa zweieinhalb Stunden. An der Strecke liegen so noble Badeorte wie De Haan. Für ein Tagesticket zahlt man sieben Euro und kann beliebig aus- und wieder zusteigen.
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Mindestens Adipöse, Alkoholkranke und Diabetiker sollten Flandern aus rein gesundheitlichen Gründen vielleicht besser meiden. Denn außer, dass sie pittoreske Städte, Baudenkmäler ohne Ende und Kunstsammlungen zum Niederknien ihr Eigen nennen, sind die Flamen auch noch ausgesprochene Genießer, dort wo es um ihr leibliches, speziell das kulinarische Wohl geht. Kaum ein anderes europäisches Volk legt mehr Wert auf gutes Essen und Trinken und lässt sich das auch etwas kosten. Pro Kopf der Bevölkerung versammeln die Flamen mehr Sterne großer Gourmetführer auf sich als die Feinschmeckertempel im benachbarten Frankreich. Insofern kann, wer Antwerpen, Gent und Brügge besucht, immer auch kulinarisch auf Entdeckungsreise gehen.
Miesmuscheln, im Sud oder mit Käse überbacken, können als eine Art Nationalgericht gelten. Sie sind quasi allgegenwärtig in den Angeboten der Restaurants. Serviert werden sie häufig – und für deutsche Gaumen eher ungewohnt – mit Pommes frites. Das hängt damit zusammen, dass letztere so etwas wie die nationale Sättigungsbeilage darstellen, wobei der dröge Begriff der Sache nicht gerecht wird: Belgischen Fritten eilt der Ruf voraus, die besten der Welt zu sein, und es besteht, soweit wir welche genossen haben, kein Grund, an diesem Nimbus zu zweifeln.
Für Deutsche eher ungewohnt ist auch eine weitere Spezialität der flämischen Küche: Während zwischen Rügen und Bodensee eine Mehrheit schon bei der Vorstellung des Genusses von Pferdefleisch Symptome von Ablehnung bis Ekel zeigt, findet sich dieses im Nachbarlande selbst in Restaurants mit gehobener Küche durchaus auf der Speisekarte. Uns war das Cirio’s in der Amerikalei 6 in Antwerpen empfohlen worden. Da mit dem einheimischen Idiom nicht vertraut, fahndeten wir auf der englischen Speisekarte nach horsemeat, aber vergeblich. Erst die Nachfrage beim freundlichen Personal klärte uns auf: Hinter dem Begriff Black Beauty verbarg sich das Gesuchte, und was wenig später als Steak, auf unseren Wunsch hin medium, serviert wurde, erwies sich als köstlicher Leckerbissen. Natürlich mit – Fritten.
Auch in Gent herrscht an Restaurants kein Mangel. Allerdings schlugen uns im vom Reiseführer empfohlenen Belga Queen – superschick hergerichtet in einem der ältesten Häuser der Stadt, einem ehemaligen Kornspeicher, und direkt an der zentralen Gracht Gents auf der Graslei gelegen – die Preise denn doch etwas auf den Appetit. Wir entschieden uns dann für eine Alternative eher am anderen Ende der Preisskala und besuchten das einfache Restaurant im Groot Vleeshuis, der früheren Großen Fleischhalle der Stadt, bereits im Jahre 1408 als imposanter Steinbau anstelle der vorherigen Halle aus Holz errichtet. Sehr beeindruckend ist der innen offene Dachstuhl mit seinen jahrhundertealten wuchtig-urigen Holzbalken. Wo ehemals die Fleischer ihre Waren feilboten, wird heute einheimische Küche auf der Basis regionaler Produkte offeriert, von denen man viele am Ort auch direkt kaufen kann. Uns haben Ambiente und Angebot ausgesprochen zugesagt.
Für Schlankheitsjünger ist die flämische Küche allerdings kreuzgefährlich: Die Portionierung erfolgt allenthalben ausgesprochen großzügig. Darüber hinaus drohen noch weitere kulinarische Gefahren. Dazu weiter unten.
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Natürlich verfügen flämische Restaurants auch über Weinkarten, aber einheimische Tropfen wird man darauf nur in Ausnahmefällen finden. Die belgische Weinproduktion ist ausnehmend bescheiden – 2006: 4.000 Hektoliter; im Vergleich dazu Deutschland: 9,25 Millionen Hektoliter, im Zehnjahresmittel.
Für belgische Biere hingegen gilt das ganze Gegenteil, und zwar nicht nur was die Vielzahl der angebotenen Marken anbetrifft, sondern auch die der Geschmacksnoten. Die Belgier gelten als sortenreichste Bierbraunation der Welt. Zusammen mit allen speziellen Bierarten sind mehr als 1.000 Variationen gezählt worden. Dabei mag Kriek (Sauerkirschbier) oder Pecheresse (Pfirsichbier) nicht jedermanns Geschmack sein, aber Rotbier, Triple oder Trappistenbier mundeten uns vorzüglich. Die dabei im Vergleich zu deutschem Bier zu schmeckenden vielfältigen Aromen resultieren daraus, dass in Belgien nicht nach deutschem Reinheitsgebot, sondern auch mit Zusätzen wie zum Beispiel Milchsäurekulturen gebraut wird. Vorsicht allerdings – auch der Alkoholgehalt ist spürbar höher: Ein bernsteinfarbenes Quadrupel wie das Debuisson Bush – Eigenwerbung: „The strongest Belgian beer“ – kommt auf zwölf Prozent.
Ein Geheimtipp für Biergenießer und Neugierige ist das De Garre mitten im Zentrum von Brügge, in der Breidelstaat. Den schmalen, leicht vergammelten Hausdurchgang zwischen zwei Geschäften übersieht man leicht. Die rustikale Bierkneipe in einem Hinterhaus erstreckt sich über drei Stockwerke und ist abends meist rappelvoll. Große Küche sollte man dort nicht erwarten, aber die Getränkekarte hat – gefühlt – 150 Biersorten zu bieten. Einfach probieren …
Nach üppigem Essen, so behaupten ja nicht nur passionierte Trinker, soll ein Schnaps die Verdauung anregen. Vom Genever, einer aus Gersten- oder Roggenmalz hergestellten Spirituose, aromatisiert mit Wacholder, teilweise auch mit Kümmel, Anis oder Koriander, um deren Herkunft sich Belgien und die Niederlande streiten, können wir das auf der Basis einiger Feldversuche bestätigen. Ein feiner Kornbrand, wenn er als Oude (alter) Genever genossen wird. Jonge Genever haben wir nicht probiert. Tun könnte man das sicher bei ‘t Deupelkot, einem Geschäft am Groentenmarkt 12 im Zentrum von Gent – dort kann man unter rund 200 Sorten Genever wählen. Der Unterschied zwischen oude und jonge liegt übrigens nicht im Alter des Tropfens, sondern im Destillationsverfahren. Der jonge soll ziemlich neutral schmecken.
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Und dann ist Belgien im Allgemeinen und Flandern im Besonderen zu allem Überdruss auch noch berühmt für seine Pâtisserie und Chocolaterie. Göttliche Pralinen gibt es in vielen kleinen Geschäften. Da kann man sich sein 10er- oder größeres Päckchen selbst zusammenstellen und anschließend beim Schlendern gleich verzehren. Damit reicht man natürlich nicht weit, aber bis zum nächsten Geschäft auf alle Fälle. Eine tödliche Versuchung, wie der erste Blick auf die Waage nach der Heimkehr schonungslos offenbart. Vor allem weil auch handgefertigtes flandrisches Marzipan a class of its own ist. Das wird in langen Rollen (Durchmesser etwa zehn Zentimeter) und in unterschiedlichsten Geschmacksrichtungen angeboten. Das kann man scheibenweise kaufen – zum Beispiel in Rose’s Chocolat City, Steenstraat 47, Brügge – und anschließend beim Schlendern ebenfalls gleich …
Teil I (Antwerpen), II (Gent) und III (Brügge) erschienen in den Ausgabe 20, 21 und 22/2014
Schlagwörter: Alfons Markuske, Belgien, Essen, Flandern, Patisserie, Tram, Trinken