17. Jahrgang | Nummer 23 | 10. November 2014

Ein deutscher Kolonialpolitiker

von Wolfgang Brauer

Am 18. April 1884 wies Reichskanzler Otto von Bismarck den deutschen Konsul in Kapstadt telegrafisch an, den britischen Kolonial-Behörden mitzuteilen, dass die „Erwerbungen“ des Bremer Kaufmannes Adolf Lüderitz fortan „unter dem Schutz des Reiches stünden“. Dieselbe Mitteilung ging an den deutschen Botschafter in London. Beide Telegramme sind gleichsam die Geburtsurkunden des deutschen Kolonialreiches. Deutsch-Südwestafrika folgten noch im selben Jahre Togo und Kamerun, 1890 dann Deutsch-Ostafrika. Dem chinesischen Kaiserreich presste man 1898 Kiautschou ab, dazu kamen weit gestreute pazifische Archipele und 1899 Deutsch-Neuguinea. „… wir wollen auch unseren Platz an der Sonne“, erklärte am 6. Dezember 1897 Reichkanzler Bernhard von Bülow dem lange Zeit nicht nur ob der Kosten nicht sonderlich kolonialbegeisterten Reichstag. Die „Schutzbefohlenen“ erwiesen sich als widerspenstig. Zudem wurden die Kolonien zum Zuschussgeschäft. Im Falle der namibischen Herero und Nama führte deren Aufbegehren zum ersten geplanten Völkermord der neueren Geschichte. Auch nach der aufgrund erheblicher Proteste im Reich erfolgten Ablösung des Mörder-Generals Lothar von Trotha besserten sich die Zustände in den Kolonien mitnichten. Wie auch. Die Grundsuppe aller Kolonialbemühungen benannte ein gewisser Theodor Leutwein in seinen 1908 erschienenen Erinnerungen: „Das Endziel jeder Kolonisation ist, von allem idealen und humanen Beiwerk entkleidet, schließlich doch nur ein Geschäft.“ Leutwein musste es wissen: Von 1894 bis 1905 war er Gouverneur und Kommandeur der „Schutztruppe“ in Deutsch-Südwestafrika. Der Herero-Aufstand brach in seiner Amtszeit aus. Symbolträchtiges Accessoire der Kolonisten blieb trotz allen Geschwätzes die Nilpferdpeitsche.
1906 drohte die deutsche Kolonialpolitik gänzlich aus dem Ruder zu laufen. Neben der aufgrund des brutalen Vorgehens der „Schutztruppe“ immer breitere Kreise der Gesellschaft erfassenden antikolonialen Stimmung stockten die Bauprojekte. Die Finanzen reichten hinten und vorne nicht. Im Reichstag hatte der „antikoloniale Block“ aus Zentrum, SPD und Polenpartei die Mehrheit. Reichskanzler von Bülow griff nun zu einem für die Personalpolitik des Auswärtigen Amtes ungewöhnlichen Mittel: Er berief in Gestalt des Berliner Bankiers Bernhard Dernburg „externen Sachverstand“ an die Spitze der Kolonialabteilung. Von seinen alldeutschen Gegnern wurde der Ex-Vorstand der Darmstädter Bank als „Kapitalist“ bekrittelt. Ab Mai 1907 erhielt die Kolonialabteilung als „Reichskolonial-Amt“ quasi ministerialen Status zugewiesen. Dernburg wurde zum Staatssekretär erhoben. Politische Rückendeckung bekam er durch den in der „Hottentottenwahl“ vom Januar 1907 siegreichen „Bülow-Block“.
Bernhard Dernburg leitete nun eine „koloniale Reformära“ ein, die den Kolonialkritikern „zum Teil den Wind aus den Segeln“ (Ulrich van der Heyden) nahm und selbst auf die deutsche Sozialdemokratie nicht ohne Einfluss blieb. Dernburg gab sein Amt allerdings 1910 wieder auf. Der „wirklich liberale und demokratische Mensch“, so zitiert sein Biograph Hartmut Bartmuß die Bewertung Dernburgs durch Wilhelm Külz, stieß an die Grenzen des wilhelminischen Systems. Külz gehörte auch nach 1945 zu den führenden liberalen Politikern Deutschlands und war Mitbegründer der LDPD.
Bartmuß legte jetzt in der Reihe der „Jüdischen Miniaturen“ von Hentrich & Hentrich ein kenntnisreiches Büchlein über Bernhard Dernburg vor. Dernburg, dessen jüdischer Großvater väterlicherseits 1842 (!) zum Protestantismus konvertierte, war als evangelischer Christ mit einer protestantischen Pfarrerstochter verheiratet und musste dennoch die Erfahrung seines Freundes Walther Rathenau teilen, dass „ein getaufter Jude noch kein getaufter Christ ist“. Es ist ein Irrtum, dass der „Rassen-Antisemitismus“ eine Erfindung der Nazis war. Hartmut Bartmuß belegt dies am Beispiel des Bankiers und Kolonialpolitikers Dernburg eindrucksvoll. Sowohl Dernburg als auch seinem Freunde Rathenau blieb aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln übrigens die erträumte Reserveoffizierskarriere im preußischen Heere verwehrt. Als Chef des Reichskolonialamtes war Dernburg allerdings auch militärischer Oberbefehlshaber der Schutztruppe, und Rathenau durfte als Leiter der Kriegsrohstoffabteilung im Berliner Kriegsministerium das frühzeitige Zusammenbrechen des Deutschen Reiches in den Jahren 1914 und 1915 verhindern…
Bernhard Dernburg selbst machte sich über die tiefe Verwurzelung des Faschismus in der deutschen Gesellschaft keine Illusionen: „Meiner Ansicht nach wird der Nationalsozialismus erst nach einer völligen militärischen Niederlage als Abschluss eines verheerenden Krieges enden.“ – Bartmuß zitiert ein Gespräch mit dem Juristen und späteren Exilanten Kurt Korf aus dem Jahre 1936. Der Staatssekretär a.D. des Kaisers erlebte die Bestätigung seiner Voraussage nicht mehr. Er starb 1937. Dass die von ihm federführend vertretene deutsche Kolonialpolitik nicht unwesentlich zum braunen Mycel beitrug, war ihm wohl selbst zeitlebens nicht klar. Es ist gut, dass Hartmut Bartmuß der im Vorwort seines Büchleins aufgestellten Prämisse, „den Politiker und Finanzexperten Bernhard Dernburg aus seiner Zeit heraus zu verstehen“, letztendlich nicht folgt. Verständnis ist der erste Schritt zum Verzeihen. Die europäische Kolonialpolitik, auch die deutsche, ist nicht entschuldbar. Und 110 Jahre nach dem Ausbruch des Herero-Aufstandes ist es ein Anachronismus sondergleichen, wenn die Bundesrepublik Deutschland – die sich bei der Sicherung im Ausland gelegener Immobilien gerne als Rechtsnachfolgerin des Kaiserreiches sieht – in Sachen Herero und Nama nach wie vor die Anerkennung eines Völkermordes als das verweigert, was er wirklich war: ein Völkermord. Hier wäre Leutwein zu zitieren… Es ist gut, dass mit Hartmut Bartmuß wieder einmal jemand den Finger in die Wunde gelegt hat.

Hartmut Bartmuß: Bernhard Dernburg. Kolonialpolitiker der Kaiserzeit, Hentrich & Hentrich, Berlin 2014, 112 Seiten, 9,90 Euro.