von Heerke Hummel
Was sich in den letzten Jahrzehnten im Weltfinanzsystem tat, war der helle Wahnsinn. Dem lag das ökonomische Theoriegebäude des Neoliberalismus zu Grunde, wesentlich geprägt durch immer neue Gleichgewichts- und Wachstumsmodelle, dekoriert sogar mit Nobelpreisen.
Der Ausbruch der Finanzkrise 2008 versetzte die Zunft der Ökonomen in Schockstarre. Dann kamen Buchveröffentlichungen mit heftigen Anklagen gegen die Theoretiker und ihr Gefolge in der Praxis des Finanzwesens auf den Markt. Archäologen unter den Autoren bemühten sich um Erklärungen für die Ursachen mit Rückblicken auf das uralte Problem der Schulden.
Nun hat sich der Engländer Felix Martin mit einem theoriegeschichtlichen Rückblick, wenn man sein Opus so nennen kann, zu Wort gemeldet, um festzustellen, dass die heute allgemein verbreitete und auf den britischen Ökonomen Adam Smith sowie den Philosophen John Locke zurückgehende Vorstellung vom Geld als einer Sache und Ware dem historischen Prozess seiner Entstehung und Entwicklung nicht gerecht wird. Dies wurde schon desöfteren Karl Marx in Bezug auf seine Darstellung der Entwicklung der Wertformen bis zur Geldform des Warenwertes vorgeworfen. Dazu sei hier nur kurz bemerkt, dass neuere archäologische Erkenntnisse, zum Beispiel aus dem alten Babylon – über dessen Herausbildung einer Schrift und der ökonomischen Buchhaltung –, auf die sich F. Martin wesentlich stützt, Marx nicht zur Verfügung standen. Außerdem tut es dessen Darstellung gar keinen Abbruch, denn diese vermittelt uns die Logik eines Prozesses, der sich offenbar über Jahrtausende im ökonomischen Bewusstsein der Menschen vollzog und den der Mann aus Trier bewusst mit dem Ziel analysierte, die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Warenproduktion aufzudecken. Dem Briten hingegen geht es nur um das Verständnis vom Wesen des Geldes.
„Geld, die wahre Geschichte“ ist ein geistreicher, auch für Nicht-Ökonomen verständlich und sehr unterhaltsam geschriebener Beitrag zu der Frage, was Geld eigentlich ist und wie es entstand. Martin spricht immer von dessen „Erfindung“. Dieser Ausdruck dürfte der Realität nicht gerecht werden. Denn der Autor selbst führt uns vor Augen, wie eng die Entstehung des Geldes mit der Entwicklung des ökonomischen Denkens, der Arithmetik, der Schrift und mit den „Techniken“ einer Buchhaltung im alten Babylon einerseits sowie dem politisch-sozialen Denken und Handeln im antiken Griechenland, der Wiege des Geldes, andererseits verbunden war. Dieser enge Zusammenhang von wissenschaftlichem Denken, Ökonomie und Politik durchzieht das ganze Buch. Und F. Martin schildert uns die Kämpfe, die um das Geld in der Praxis und in der Theorie über die Jahrhunderte geführt wurden. Sein Buch sei all jenen empfohlen, die sich überhaupt für diese Thematik interessieren. Es vermittelt ein Verständnis dafür, warum sich gesellschaftliche Prozesse wie vollziehen, beispielsweise auch in der aktuellen Finanzkrise als letztendlicher Folge einer falschen gesellschaftlichen Vorstellung vom Wesen des Geldes, wie der Buchautor meint.
Dennoch sei davor gewarnt, Martins Erklärungen unkritisch zu übernehmen. Er beginnt nach einer kurzen historischen Einleitung mit der These: „Geld ist das System von Kreditkonten und ihrer Verrechnung, welches die Währung lediglich repräsentiert.“ Begründet wird das mit Untersuchungen praktisch über die ganze Menschheitsgeschichte hinweg zur praktischen Abwicklung insbesondere des Fernhandels sowie zu Strategien der Bewältigung von Finanzkrisen, in denen Geschäftsleute, um den Handel aufrecht zu erhalten, Kredit einräumten. Für F. Martin ist dies private Geldschöpfung, wenn „der ursprüngliche Gläubiger in einem Schuldverhältnis die Zahlungsverpflichtung seines Schuldners zur Abgeltung einer nicht damit zusammenhängenden Verbindlichkeit an einen Dritten übertragen kann. […] Obwohl alles Geld Kredit ist, ist nicht jeder Kredit Geld: Der entscheidende Unterschied ist die Möglichkeit der Übertragung.“ Für den Autor des Buchs ist Geld daher „kein Warentauschmittel, sondern eine soziale Technologie“. Eins ihrer fundamentalen Elemente sei neben einem System von Konten und der schon erwähnten notwendigen Übertragbarkeit des Kredits „eine abstrakte Werteinheit, auf die das Geld lautet“.
Zu dieser abstrakten Werteinheit äußert sich F. Martin leider überhaupt nicht, obwohl er ein ganzes Kapitel dem „Maß des Geldes“ widmet. Hier liegt die entscheidende Schwäche des Buches. Es wird eine „archäologische Expedition“ unternommen, um „Ideen, Praktiken und Institutionen“ freizulegen, „insbesondere aber die Idee des abstrakten ökonomischen Werts, die Praktik der Buchführung und die Institution der dezentralen Übertragbarkeit“. Mancher mag hierbei an den Marxschen Begriff der abstrakten Arbeit als dem wesentlichen Moment im Wertbildungsprozess der Waren produzierenden Arbeit denken. Weit gefehlt! Was der Wert einer Ware ist, wie er sich misst und wie seine Größe auszudrücken ist, welche Rolle das Geld in diesem Zusammenhang spielt und wie das logischerweise funktioniert – all das interessiert den in Oxford Geborenen, in den USA als Fulbright-Stipendiat geförderten Publizisten (mit Abschlüssen in „Klassiker, internationale Beziehungen und Wirtschaftswissenschaften“) nicht. Ihn interessieren auch nicht der gesellschaftliche Reproduktionsprozess als ganzer und die Funktion des Geldes darin, sondern allein das Geld als ein Kredit, der als Zahlungsmittel anerkannt ist. Und so bleibt seine mehrfach erwähnte „Idee eines allgemeingültigen Wertbegriffs“ ein nebulöses Gespenst, das im alten Griechenland vielleicht eine wirklichkeitsgetreue Idee darstellte, heute aber als diffuse Worthülse durch gewisse Köpfe geistert, denen noch immer das Gespenst des Kommunismus des Herrn Marx mit seiner Arbeitswerttheorie und deren Konsequenzen im Nacken sitzt.
Für eine ernstzunehmende geldtheoretische Arbeit ist das zu wenig. Mit dem Titel „Geld, die wahre Geschichte“ wird dieser Anspruch zwar nicht erhoben. Aber wenn sich der Autor mit diversen Theoretikern und Ideen bis in die Antike zurück auseinandersetzt, dabei aber Karl Marx so gut wie völlig fehlt (von vier belanglosen Zitaten abgesehen), spricht das für sich. Immerhin hat der doch mit seinem Denken das ganze vorige Jahrhundert geprägt. Man könnte nur spekulieren, was den US-geprägten Autor, der bei der Weltbank arbeitete und zu einem führenden Londoner Asset-Management-Unternehmen (Vermögensanlageberatung) wechselte, zu solcher Zurückhaltung bewogen haben mag. Felix Martin ist durch und durch Praktiker. Und ihn interessiert nur, ob etwas in der Praxis funktioniert. Das ist ein gesunder Standpunkt. Aber reicht das in der Gegenwart für dauerhafte Lösungen? F. M.: „Das Problem ist nicht der Kapitalismus, sondern das Geld und unser Verständnis des Geldes.“
Natürlich zieht Felix Martin – wie verschiedene andere Publizisten seit 2008 vor ihm – an etlichen Stellen seines Buches und ganz konzentriert an dessen Ende gegen die universitären Wirtschaftswissenschaftler mit ihren „abstrusen theoretischen Entwicklungen in der Makroökonomik und der Finanzwirtschaft“ zu Felde und greift dabei Franz Münteferings Tirade gegen die zeitgenössischen Finanzpraktiken nach Art verantwortungsloser Heuschreckenschwärme auf. Die „eigentliche Ursache des Problems“ sieht der Autor „in dem Unterschied zwischen zwei Geldkonzeptionen“, insbesondere in dem, was er „das konventionelle Verständnis des Geldes“ nennt. Hier spricht das Mitglied des Instituts für Neues Ökonomisches Denken in New York und des Zentrums für Globale Studien in London. Was er zur Stabilisierung des Finanzsystems vorschlägt, hat man in letzter Zeit alles schon mal gehört oder gelesen. Für die praktischen Maßnahmen zur flexibleren Steuerung mittels der Geldpolitik soll seine Konzeption des Geldes wohl eine Art theoretische Begründung und Legitimation liefern, auch wenn es nur darum geht, „den gesunden monetären Menschenverstand“, der durch beziehungsweise seit John Locke abhandenkam, wieder zum Leben zu erwecken. Was das bedeuten könnte, formulierte Finanzminister Wolfgang Schäuble unmittelbar nach der Pleite von Lehman Brothers im Herbst 2008 (damals noch als Innenminister) so: „Uns bleibt nichts weiter übrig als weiterzumachen wie bisher – nach der Methode ‚Versuch und Irrtum‘“.
Wer heute das Weltfinanzsystem dauerhaft stabilisieren will, wird nicht umhin kommen, es auf ein zuverlässiges theoretisches Fundament zu stellen, zu dessen wesentlichen Elementen die Anerkennung der Arbeit als Wert bildende Kraft gehört. So gesehen sind Euro und Dollar ihrem Wesen nach aber nichts weiter als gesellschaftliche Bescheinigungen für geleistete gesellschaftliche Arbeit, mit denen ein Anspruch auf einen entsprechenden Teil des gesellschaftlichen Gesamtprodukts ausgedrückt wird.
Felix Martin: Geld, die wahre Geschichte. Über den blinden Fleck des Kapitalismus, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2014, 427 Seiten, 22,99 Euro.
Schlagwörter: Finanzkrise, Geld, Geldpolitik, Heerke Hummel, Kapitalismus