17. Jahrgang | Nummer 18 | 1. September 2014

Konservative im eiskalten Wasser

von Bernhard Mankwald

Ein Blättchen-Autor, der schon einmal für „rechte“ Publikationen geschrieben hat? Bei näherer Betrachtung erwiesen sich die Gastbeiträge von Heino Bosselmann in Heft 14/2014 und den beiden folgenden Ausgaben als fruchtbare Denkanstöße; daher hier einige eigene Überlegungen zum Unbehagen der Konservativen und zur scheinbaren Allgegenwart einer diffusen „linken Mitte“.
Die Konservativen in England sind insofern exemplarisch, als sie sich als einzige große Partei der Gegenwart auch so nennen und nicht hinter politischen Idealen wie dem Volk oder der Nation verschanzen. Nach zwei Revolutionen im 17. Jahrhundert haben sie gelernt, weitere radikale Umbrüche zu vermeiden. Sie verdienen daher die besondere Beachtung ihrer Gesinnungsgenossen auf dem Kontinent, die von einer derart kontinuierlichen Erfolgsgeschichte nur träumen können. Für Kritiker ist ihre Entwicklung leichter zu verstehen als etwa die in Italien, wo sich die Parteienlandschaft in den letzten hundert Jahren mehrmals gänzlich geändert hat.
In ihrer Geschichte erwiesen sich die Konservativen als Meister des hinhaltenden Rückzugs, die eine gewisse Demokratisierung des politischen Systems, später dann die Verstaatlichung einiger Industriezweige und des Gesundheitswesens hinnahmen, um andere Positionen zu wahren. Noch vor dem Ende des Kalten Krieges begann unter Margaret Thatcher die Gegenoffensive im Zeichen des Neoliberalismus, der schließlich auch die Politik späterer Labour-Regierungen stark beeinflusste. Die soziale Grundlage der Partei wandelte sich im Lauf der Zeit erheblich; ein erblicher Sitz im Oberhaus, der früher idealer Ausgangspunkt einer politischen Karriere war, ist längst zum Ballast geworden.
Der Hauptwiderspruch einer solchen Politik besteht darin, dass bestehende politische Machtpositionen gewahrt werden, um mit ihrer Hilfe die ökonomischen Verhältnisse weiterzuentwickeln und mit der Zeit umzuwälzen. Solche Konservative zerstören also letzten Endes selbst die sozialen Bindungen, auf denen ihre traditionelle Macht beruht, und müssen sich um Ersatz bemühen. Wer sich aber konsequenter Weise auch dem wirtschaftlichen Fortschritt verschließt, steht angesichts der Dynamik der Entwicklung auf verlorenem Posten.
Diesen Zusammenhang sah schon sehr früh Karl Marx, der seine ökonomischen Thesen ja am Beispiel der britischen Wirtschaft entwickelte. Nach seiner treffenden Beschreibung hat das Besitzbürgertum „die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt.“
Seine Einschätzung, die Bourgeoisie habe „an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung“ gesetzt, unterschätzt jedoch die Nützlichkeit von Illusionen jeder Art für das politische Alltagsgeschäft krass und hat sich in der zwischenzeitlichen Entwicklung kaum bestätigt. Gerade die englischen Konservativen wissen sehr wohl, was sie an ihrem Königshaus haben und lassen sich dies auch einiges kosten. Generell arbeiten ganze Bewusstseinsindustrien daran, jede Art offener Missstände mit neuen politischen – oder noch lieber unpolitischen – Illusionen zu verhüllen. Auch Waren und Dienstleistungen lassen sich ohne einen solchen Nimbus kaum mehr verkaufen. Von allen Seiten erklingt im Chor das Loblied, wie prächtig die neuen Kleider des Kaisers seien. Vereinzelte Stimmen die einwenden, er habe doch gar nichts an, finden vor diesem Hintergrund kaum Gehör und klingen kindisch.
Auch der vorgeblich reale Sozialismus beruhte auf Illusionen – der Illusion des Volkseigentums, der Räteherrschaft, der „Volksdemokratie“. Diese Täuschungen werden auch heute noch pfleglich behandelt und keinesfalls angegriffen, ermöglichen sie doch die für die Gegenwart sehr wichtige Illusion, der Kapitalismus sei sozialer als der Sozialismus. Der italienische Philosoph Antonio Gramsci bezeichnete die Normalform der bürgerlichen Herrschaft als Hegemonie oder Vorherrschaft; nach seiner Ansicht ist sie gekennzeichnet „durch die Kombination von Zwang und Konsens“. Da die Anwendung von Zwang schon aus praktischen Gründen besonderen Anlässen vorbehalten bleibt, muss die Hegemonie sich in viel stärkerem Maße als je zuvor auf den Konsens stützen – mit welchen Mitteln er auch erreicht werden mag.
In Deutschland ist dieser Effekt besonders stark, da das früher vorhandene enorme Potential zur Ausübung von Zwang auf ein Minimum geschrumpft ist. Noch vor 30 Jahren bereiteten sich hier mehr als eine Million Soldaten der west- und ostdeutschen Armeen und der sowjetischen, US-amerikanischen, britischen, französischen, kanadischen und belgischen Streitkräfte auf eine Konfrontation und sicher auch auf den Fall innenpolitischer Unruhen vor. Heute rüstet sich vielleicht ein Zehntel dieser Zahl für Kriege in immer ferneren Ländern, deren Sinn immer schwerer zu verstehen ist. Das kann nicht ohne Folgen für das innenpolitische Klima bleiben. Unliebsame Maßnahmen wie etwa der Bahnhofsbau in Stuttgart lassen sich gegen hartnäckigen Widerstand zwar noch durchsetzen; unter Umständen aber nur um den Preis einer nachfolgenden Wahlniederlage.
Mit der Abschaffung der Wehrpflicht verschwindet allmählich die Kaste der Reserveoffiziere, die seit 200 Jahren eine Bastion militärischer Werte in der Gesellschaft war. Auch der wachsende Anteil von Frauen in Regierungsämtern und gar in den Streitkräften wird Traditionalisten missfallen. Die Verunsicherung der Konservativen, die der Verfasser der Beiträge schildert, ist daher sehr verständlich.
Der neue, diffus links anmutende Konsens dagegen verbreitet sich unter marktwirtschaftlichen Bedingungen scheinbar von selbst; in einer umfassenden und flexiblen Art, auf die jedes System staatlicher Lenkung neidisch sein könnte. Auch in der Parteipolitik zeigt sich eine große Bereitschaft zu freiwilliger Einordnung. Die beherrschende Stellung, die die Unionsparteien trotz regelmäßiger Stimmverluste bundesweit innehaben, beruht darauf, dass SPD und Grüne mehr oder minder freiwillig darauf verzichten, rechnerische Mehrheiten, die sich mit der Linkspartei oft bieten, zu nutzen. Versuchen sie dies aber einmal doch, setzen sie sich dem Vorwurf des Wortbruchs aus – der in der Politik eigentlich alltäglich ist, in anderen Fällen jedoch mit einem verständnisvollen Schmunzeln übergangen wird. Die rechnerische Mehrheit hingegen geht auf dem Weg zur Abstimmung oft auf recht dubiose Art verloren.
In der Bundespolitik haben SPD und Grüne ihre Haltung nachdrücklich bekundet, indem sie einen Kandidaten für das höchste Staatsamt nominierten, der den Kampf gegen das Unrecht der DDR, so wie er es versteht, auf seine Fahnen geschrieben hat. Die tatsächlich später erfolgte Wahl dieses Kandidaten dürfte die Verhältnisse auf Jahre hinaus festschreiben.
Als Grundkonsens der gegenwärtigen Zustände kann also ein sorgsam gepflegter Antikommunismus oder Antisozialismus angesehen werden. Der ebenfalls breit propagierte Antifaschismus erscheint demgegenüber als ein Zugeständnis eines wichtigen Teils der Akteure an ihr Selbstverständnis, demzufolge sie auch in irgendeiner Weise links sind. Außerdem ist dies ein Anliegen, von dem sich auch die Linkspartei einmal nicht ausschließen lassen muss.
Als ökonomische Basis einer solchen Ideologie kann man eine neue Schicht von Staatsdienern betrachten, die zwar für eine Vielzahl von Institutionen der „Zivilgesellschaft“ arbeiten, letzten Endes aber aus öffentlichen Mitteln finanziert werden. Sie haben die Fürsorge für die Benachteiligten zu ihrer Aufgabe gemacht – und hindern diese vielleicht gerade dadurch, sich aus eigener Kraft aus ihrer Lage zu befreien. Der „Vormundschaftliche Staat“, als den Rolf Henrich die DDR treffend charakterisierte, findet so seine Fortsetzung mit moderneren und wirksameren Mitteln. Ein Konzept wie das des Klassenkampfes, auf das frühere Generationen von Linken ihre Analyse der bürgerlichen Gesellschaft aufgebaut haben, kann solchen Kräften nur peinlich sein. Hingegen ist es ihnen dienlich, reale, wenn auch schwer zu definierende Unterschiede wie den zwischen links und rechts, Fortschritt und Rückschritt, und gar zwischen oben und unten zu vernebeln.