17. Jahrgang | Nummer 17 | 18. August 2014

Initiative für ein kooperatives Größeres Europa

von Hubert Thielicke

Noch nie seit dem Ende des Kalten Krieges waren die Gefahren für Frieden und Sicherheit auf dem europäischen Kontinent so groß wie heute. Seit Monaten tobt die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen der Kiewer Regierung und den nach Autonomie strebenden prorussischen Aufständischen im Südosten der Ukraine. Voran gegangen waren der gewaltsame Sturz des gewählten ukrainischen Präsidenten Janukowitsch und die damit verbundene Verschiebung der Machtbalance in Kiew sowie die darauf folgende Besetzung der Krim durch Russland.
Nun überschlagen sich die Ereignisse: forcierte Kampfhandlungen bis hin zum Einsatz schwerer Artillerie gegen Städte und Siedlungen, die zu schweren Opfern unter der Zivilbevölkerung führten; bis heute ungeklärter Absturz von MH17. Damit verbunden war eine Eskalation auf internationaler Ebene. Russland konzentrierte Truppen zu Manövern östlich der ukrainischen Grenze, die NATO sandte Streitkräfte in die baltischen Staaten und Polen, führte Seemanöver in der Ostsee und im Schwarzen Meer durch. USA und EU setzten einen Sanktionsmechanismus in Gang, der in den Schritten von Ende Juli gipfelte. Russland antwortete mit einigen begrenzten Maßnahmen. Der Handelskrieg hat begonnen.
Parallel dazu entwickelte sich ein in den letzten Jahrzehnten nicht mehr gekannter Propagandakrieg. Präsident Obama stufte Russland rhetorisch zur „Regionalmacht“ ab, amerikanische Geheimdienste beschuldigten Russland, die prorussischen Kämpfer mit schweren Raketensystemen zu versorgen und – Gipfel des Ganzen – den INF-Vertrag von 1987 gebrochen zu haben. Präsident Putin entgegnete, Russland werde adäquat auf die Annäherung der NATO-Infrastruktur an die russischen Grenzen antworten. Das von USA und NATO geplante Raketenabwehrsystem sieht Russland als Teil eines Offensivsystems.
In diesen Zeiten der politischen, militärischen, ökonomischen und psychologischen Eskalation zeigte sich, dass von dem seit Ende der 1980er Jahre aufgebautem Vertrauen wenig übrig geblieben war. Bereits vor der Ukraine-Krise fühlte sich Russland durch die Ost-Erweiterung der NATO zunehmend bedroht, während seine Initiativen zu einem Sicherheitsraum von Vancouver bis Wladiwostok beziehungsweise einer Wirtschaftszone von Lissabon bis Wladiwostok im Westen im Grunde abgelehnt wurden.
In dieser bedrohlichen Situation bewährten sich zwei Instrumente der Diplomatie. Die OSZE, in den letzten Jahren vor allem mit Wahlbeobachtungen, vornehmlich auf dem Balkan und in Osteuropa, befasst, etablierte eine Beobachtungsmission in der Ukraine. Insbesondere dank der Bemühungen von Außenminister Steinmeier gelang es, eine Trilaterale Kontaktgruppe von hochrangigen Vertretern der Ukraine, Russlands und der OSZE einzurichten, die sich schließlich am 31. Juli in Minsk mit Vertretern der separatistischen Gruppen aus der Ostukraine traf. Ging es hier zunächst um den Absturz von MH17 und die Freilassung von Geiseln, so bietet dieser Prozess unter Umständen Potenzial für weitergehende Schritte.
Nach Meinung einer Gruppe ehemaliger hochrangiger Außen- und Militärpolitiker sowie Wissenschaftler westeuropäischer Länder und Russlands sind diese Maßnahmen aber bei weitem nicht ausreichend, denn es bestehe die Gefahr, dass die Situation eskaliert und damit die Sicherheit in der Ukraine und Europa insgesamt gefährdet. Angesichts dessen seien die Vereinbarungen zwischen NATO und EU auf der einen Seite und Russland auf der anderen über Krisenmanagement ungenügend. In ihrem Ende Juli veröffentlichten Positionspapier „Crisis Management in Europe in the Context of Events in Ukraine“ richtet die Task Force on Cooperation in Greater Europe dringliche Empfehlungen an NATO, EU und Russland:
– militärische und politische Zurückhaltung, auch im Hinblick auf ihre Partner und Verbündete in der Großregion;
– erhöhte Kommunikation zu militärischen Fragen, Informationsaustausch und Transparenzmaßnahmen;
– direkter Dialog miteinander parallel zum Dialog zwischen den Parteien in der Ukraine und zwischen ihnen und Akteuren außerhalb des Landes.
Um eine unbeabsichtigte Eskalation der Krise zu vermeiden, müssten die Regeln des militärischen Verhaltens mit dem Ziel überprüft werden, in der militärischen Kommandokette klare Leitlinien zugunsten von Zurückhaltung zu gewährleisten. Es dürfe auch nicht übersehen werden, dass neben der Ukraine weitere Gefahrenherde zwischen Russland und dem Westen existieren: Transnistrien, Südossetien, Abchasien, Nagorno-Karabach.
Hinsichtlich militärischer Kommunikation wird vorgeschlagen, das Wiener Dokument zu vertrauensbildenden Maßnahmen zu ergänzen, zum Beispiel durch regionale Militärverbindungsmissionen und zusätzlichen Informationsaustausch über Streitkräftebewegungen außerhalb von Garnisonen.
Von weit reichender Bedeutung sind die Vorschläge zur Erweiterung des Dialogs zwischen NATO, EU und Russland. Der NATO-Russland-Rat müsste sich viel öfter treffen. Darüber hinaus sei es notwendig, einen fundamentalen Dialog über wichtige Fragen des Helsinki-Aktes zu führen: über nationale Souveränität und das Interventionsrecht auf der einen Seite sowie die territoriale Integrität und das Sezessionsrecht auf der anderen. Der ukrainischen Wirtschaft müsse geholfen werden, auch durch die Integration mit den Wirtschaften der EU und Russlands. EU und Russland sollten einen stillen Dialog über die künftige Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes von Lissabon bis Wladiwostok fortsetzen.
Abschließend fordert die Gruppe, den durch die gegenwärtige Krise entstandenen Schaden einzudämmen. Trotz der Ukraine-Krise haben der Westen und Russland gemeinsame Interessen; selbst während des Kalten Krieges war es möglich, Abkommen zu erreichen. Ein langfristiges Ziel bleibe ein kooperatives Größeres Europa. Wichtig sei die Kooperation zu Afghanistan und dem iranischen Nuklearprogramm, der Kampf gegen Radikalismus und Terrorismus in Syrien und anderswo im Nahen Osten und Zentralasien.
Wie das deutsche Mitglied der Task Force, der ehemalige Verteidigungsminister Volker Rühe, im Interview mit Spiegel Online feststellte, „mag sich das wie eine unrealistische Vision anhören, aber wir brauchen transeuropäische, politische und militärische Strukturen, die Ost und West miteinander verbinden – und zwar über die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit hinaus.“ Im Grunde geht es darum, die nach wie vor existierenden Denkweisen und Verhaltensmuster des Kalten Krieges zu überwinden. Das ist ein wesentliches Anliegen der vom European Leadership Network, einem Verbund ehemaliger hochrangiger Politiker und Militärs, initiierten Dokumente. So enthält der 2013 vorgelegte Bericht „Building Mutual Security in the Euro-Atlantic Region“ (www.BuildingMutualSecurity.org) ein umfassendes Paket von Vorschlägen über einen Dialog zu Sicherheit, Vertrauensbildung und Abrüstung zu einem breiten Spektrum militärischer Fragen – von Kernwaffen und Raketenabwehr bis zu konventionellen Streitkräften, Cybersicherheit und Weltraum.

Zentrale Themen der Task Force on Cooperation in Greater Europe sind Vertrauensbildung und praktische Schritte in Richtung auf ein kooperatives Größeres Europa. Sie wird unterstützt vom European Leadership Network (ELN), dem Russischen Rat für Internationale Angelegenheiten (RIAC), dem Polnischen Institut für internationale Angelegenheiten (PISM) und der Internationalen Organisation für Strategische Forschung in Ankara (USAK). Ko-Vorsitzende sind: Adam Daniel Rotfeld (Polen, ehem. Außenminister), Igor S. Iwanow (Russland, ehem. Außenminister), Des Browne (Großbritannien, ehem. Verteidigungsminster), Özdem Sanberk (Türkei, USAK-Direktor, ehem. Untersekretär im Außenministerium).
Zu European Leadership Network und Task Force:
www.europeanleadershipnetwork.org