von Mathias Iven
Es ist die musikalische Hinterlassenschaft des Philosophen Friedrich Nietzsche, die Harry Graf Kessler und Elisabeth Förster-Nietzsche am 26. Oktober 1895 in Naumburg zusammenführt. Als Mitglied der PAN-Redaktion sucht Kessler Kontakt zu dem im Mai 1894 von Nietzsches Schwester eröffneten Nietzsche-Archiv. Eingeführt wird er von dem Leipziger Philosophen Raoul Richter, der weiß, dass Elisabeth Förster-Nietzsche „jeder Funke der Begeisterung für den Thronerben Schopenhauers willkommen ist“.
Dieses erste Treffen wird zum Ausgangspunkt für die Beziehung von zwei Personen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Auf der einen Seite „die stadtbekannte Schwester des weltberühmten Bruders“ (so die Charakteristik Salomo Friedlaenders), der es – auch wenn sie es selbst nicht versteht – um die Verbreitung und Anerkennung des Werkes ihres „theuren Kranken“ geht, auf der anderen Seite ein hochgebildeter, weitgereister Intellektueller, der diese Aufgabe mit einer scheinbar unendlichen Geduld unterstützt. So heißt es in einem der ungezählten und sehr kenntnisreichen Herausgeberkommentare: „Bis zum Ende des Briefwechsels ist man immer aufs Neue verblüfft über die Langmut Kesslers, mit der er stoisch die wiederholten und teils unfairen Manöver seiner Partnerin hinnahm, Projekte zu verschleppen, plötzlich aufzugeben und umzuinterpretieren oder die Beteiligten über endlose Zeiträume hinzuhalten.“
Worum es bei diesen Projekten ging, belegt die sich über vier Jahrzehnte hinweg erstreckende, fast 800 Schreiben umfassende Korrespondenz. Da war zunächst die Arbeit an der von Förster-Nietzsche initiierten Gesamtausgabe: Dazu musste der Nachlass gesichtet werden und es bedurfte zuverlässiger – oder sollte man besser sagen: unterwürfiger – Mitarbeiter für die Erstellung der Bände. Daneben begann die Arbeit an den seit 1900 erscheinenden Briefbänden: Vielfach wurden die Korrespondenzpartner dabei, oft mit fadenscheinigen Mitteln, zur Herausgabe der an sie gerichteten Schreiben genötigt. Schließlich war da noch die im Entstehen begriffene, von Förster-Nietzsche verfasste Biographie, deren letzter Band 1904 veröffentlicht wurde und die über lange Jahre den Blick auf die Person und das Werk von Friedrich Nietzsche geprägt und zugleich verstellt hat. Und natürlich gab es die Auseinandersetzungen mit den verschiedensten Verlegern…
Doch die von Kessler und Förster-Nietzsche angestoßenen Aktivitäten gingen auch noch in eine andere Richtung. Weimar, seit dem 1. August 1896 Sitz des Nietzsche-Archivs, sollte zum Ort einer großangelegten Nietzsche-Verehrung werden. Schon im Januar 1902, noch vor der von Kessler betriebenen Berufung Henry van de Veldes an die Weimarer Kunstgewerbeschule, hieß es in einem Brief Förster-Nietzsches an den Grafen: „Weimar kann Ihnen nicht dankbar genug sein u. mich haben Sie wirklich beglückt denn ich sehe ein neues Weimar in der Zukunft empor blühen.“
Was aus all diesen Plänen wurde? Der Briefwechsel dokumentiert es, und die unzähligen, bis ins kleinste Detail gehenden Kommentare sind ein unfehlbarer Führer durch das Labyrinth einer wechselvollen Interessengemeinschaft. – Apropos Kommentare: Dass diese ersten beiden Bände der „Schriften zum Nietzsche-Archiv“ eine editorische Glanzleistung darstellen, wird für den weitergehend Interessierten spätestens beim Blick in den Anhang deutlich. Neben den üblichen Registern und den immerhin 70 Seiten umfassenden Kurzbiographien der in den Briefen erwähnten Personen finden sich auf gut 400 Seiten zahlreiche, in dieser Komplexität bisher so nicht veröffentlichte Dokumente. Als da sind: Auszüge aus der Chronik des Nietzsche-Archivs, Unterlagen zum „Neuen Weimar“ oder auch Schriftstücke zu dem für Weimar geplanten Nietzsche-Denkmal.
Somit wecken die beiden voluminösen Bände den Wunsch nach Mehr und haben zugleich die Latte für Zukünftiges sehr hoch gelegt! Zu danken ist Thomas Föhl und der Klassik Stiftung Weimar, dass diese neue Schriftenreihe begründet wurde, die – das erhoffen sich nicht nur die mit Nietzsches Werk befassten Wissenschaftler – in den nächsten Jahren hoffentlich noch viele Archivschätze ans Licht bringen wird.
Thomas Föhl (Hrsg.): Von Beruf Kulturgenie und Schwester. Harry Graf Kessler und Elisabeth Förster-Nietzsche – Der Briefwechsel 1895–1935 (Schriften zum Nietzsche-Archiv, Band 1 und 2), Weimarer Verlagsgesellschaft, Weimar 2013, 1.811 Seiten, 88,00 Euro.
Schlagwörter: Elisabeth Förster-Nietzsche, Friedrich Nietzsche, Harry Graf Kessler, Mathias Iven, Thomas Föhl