17. Jahrgang | Sonderausgabe | 28. Juli 2014

Volker Brauns „Werktage 1990 – 2008“

von Erik Baron

Wie eine Fieberkurve am DDR-Krankenbett las sich vor fünf Jahren der erste Teil des Arbeitsbuches von Volker Braun, das die Jahre 1977 bis 1989 umfasste. Nunmehr liegt die Fortsetzung vor, die „Werktage 1990 – 2008“. Braun zeichnet die Fieberkurve konsequent fort, auch wenn sich die Verhältnisse radikal verändert haben. Um im Bild zu bleiben: Die Gesellschaft erlitt einen schweren Rückfall, Symptome einer längst überwunden geglaubten Krankheit sind erneut ausgebrochen. Die Krankheit gleicht nunmehr einer gesellschaftlichen Epidemie mit hoher Ansteckungsgefahr. Und Braun, auf Visite, redet auch nicht lange um den heißen Brei herum. Sein erster Eintrag, am 2. Januar 1990 lautet: „die zeit ist da, auf die wir hingearbeitet haben, nun verlangt sie konsequenz.“ Dem Patienten mit eingehenden Analysen seinen lebensgefährlichen Zustand vor Augen führen und ihn von seiner Verblendung zu befreien, bleibt das entscheidende Stück Arbeit für Volker Braun. Aber diese Art von analytischer Therapie wird langwierig sein und verlangt die bereitwillige Mitarbeit des Patienten.
Braun weiß: „diese erfahrung müssen sie nun machen. die massen müssen in dieses blendlicht treten, um ihren eigenen schatten wahrzunehmen.“ Das schreibt er am 15. Juni 1990, noch vor der Überschwemmung des DDR-Gebietes mit der D-Mark. Diese Erfahrung müssen sie nun machen – ein Braunscher Nachwende-Grund-Satz, der später das Gerüst für „Die vier Werkzeugmacher“ bildet. Mit diesem Satz klammert sich Braun an eine Hoffnung, für die es da möglicherweise schon zu spät war. Doch an das Ende der Geschichte, wie es damals nach Fukuyama in Mode gekommen war zu propagieren, will und kann Braun nicht glauben. Er war und bleibt ein unverbesserlicher Optimist, der es nicht unterlassen kann, „das Nichtgelebte und das Wirklichgewollte“ zu Papier zu bringen. Sein Arbeitsbuch ist nicht nur ein Wegweiser und Begleiter durch sein Werk und seine „Werktage“, mit Hilfe dieses Buches lässt sich auch wunderbar eintauchen in jene Jahre gesellschaftlichen Umbruchs, die eine ganze Utopie zum Versiegen brachten, und dem Zeitgeist, der das komplette gesellschaftliche Leben unter seine Fittiche nahm, auf die Schliche zu kommen. Denn dieser Zeitgeist, wir begegnen ihm später in Brauns Stück „Was wollt ihr denn“ als tragende Figur wieder, war verantwortlich für jene gesellschaftliche Epidemie, die nicht nur das System namens Sozialismus zum Einsturz brachte, sondern auch die Utopie, auf die er sich berief, mit in die Tiefe riss. Und dieser Zeitgeist tritt nunmehr, seiner Masken entledigt und seiner Sache sicher, unverhohlen auf.
Am 30. Juni 1990, einen Tag vor der in Kraft tretenden Währungsunion, beobachtet Braun Geldtransporter mit Blaulicht und Martinshorn: „die dm wird mit der mp geliefert… es ist eine okkupation, die banken marschieren bewaffnet ein.“ Es ist die Bitterkeit über den selbstverschuldeten Untergang, über den Verlust gesellschaftlicher Utopie, die vor allem im Jahr 1990 noch in Brauns Arbeitsbuch mitschwingt. Einen Tag später, am 1. Juli 1990, notiert er ein Gedicht, das später als „Das Eigentum“ in die Braunschen Annalen eingehen wird:

da bin ich noch: mein land geht in den westen.
KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN.
ich selber habe ihm den tritt versetzt…

Denn Braun als behandelnder Arzt diagnostiziert nicht nur fahrlässiges Eigenverschulden des Patienten bei dessen Infizierung mit dem Zeitgeist-Virus, sondern zieht sich den Schuh auch selber an. Im Zusammenhang mit seinem „Hinze-Kunze-Roman“ notiert Braun zehn Jahre nach dem Ende der DDR: „ich werfe mir ganz hinzisch vor, es nicht verhindert zu haben. ich habe das land aufs spiel gesetzt. statt ihm gut zuzureden, habe ich es schlechtgemacht. ich habe es fallen lassen, mit lust, und muß die schuld bekennen.“ Schon 1990 weiß er: „wir müssen neu anfangen, auf einem klaren grund.“
Doch der Zeitgeist lässt solche Überlegungen nicht zu, zeigt mit dem ersten Irak-Krieg 1991 seine hässliche Fratze. „ich bin jetzt bürger eines kriegsbeteiligten staates“, notiert Braun am 17. Januar 1991 und, ganz im Duktus von Heiner Müller: „die toten soldaten des 20. sind die geisterarmeen des 21. Jahrhunderts“, ein Duktus, den der Zeitgeist diktiert und der auch von Braun weiter Besitz ergreift: „wir stehen, wie die alten ägypter, mit dem rücken zur zukunft, starrend in die grabkammer, in der wir leben wollten“, scheint plötzlich Benjamins „Engel der Geschichte“ 1994 zwischen den Zeilen aufzuerstehen. Braun, der unverbesserliche Optimist? Historischer Optimismus sieht anders aus, oder? Nein, Braun muss sich erst wie einst Münchhausen am eigenen Zopf aus dem (gesellschaftlichen) Sumpf ziehen, um schreibend wieder nach vorne sehen zu können. Und dazu bedarf es des rückhaltlosen Eingestehens der Niederlage. Der Blick nach vorn ist auch immer der Blick zurück! Nicht umsonst arbeitet Braun zu jener Zeit am Stück „Böhmenam Meer“, einem Rückblick auf die Prager Utopie von 1968, das 1992 seine Uraufführung erlebte. Prag 1968: für Braun der Einschnitt schlechthin. Als dort am 21. August die Panzer rollten und die Hoffnung unter sich begruben, war es für Braun die „einweisung in die vorhölle: ich war gleichsam, ohne das land zu verlassen, verbannt, ohne hoffnung in der sehnsucht lebend, oder wie dante aus erfahrung sagte: schmachtend. ich war körperlich unversehrt und geistig zerrissen, denn es war ja diese gesellschaft, die es zu ändern galt“, erinnert er sich am 24. September 2007, um nach vorn, ins Hier und Jetzt zu blicken: Heute, nach dem“ umzug in die kapitalistischen paradiese, mit höheren mieten und geringeren qualen, fühle ich um so mehr, was mir fehlt und daß wir unrettbar im wohlstand schmachten.“
Und woraus schöpft Braun Hoffnung? Denn der Zeitgeist hat über die Jahre eine blutige Spur gesellschaftlicher Verwüstung hinter sich hergezogen. Allenthalben regionale Kriege, die Flüchtlingsströme auslösen („Was wollt ihr denn“), Werkschleifungen im Osten des Landes, Arbeitslosigkeit in ungeahnter Größe, latente „faschismusbereitschaft“ – allesamt gesellschaftliche Symptome, die nicht zum Optimismus Anlass geben. Aber Braun weiß den Ausweg: jene sich verschärfende Krise des Westens, dessen Korrektiv mit dem Sozialismus weggefallen ist, und der sich als Feind nunmehr selbst gegenüber steht. „die krise des westlichen bewußtseins im augenblick seines sieges, der es einsam macht, provoziert den aufstand der unterdrückten hoffnung gegen die herrschende idee, auf dem ungewissen, weltweiten, aschgrauen grundstück zur zukunft“, notiert er am 16. Oktober 1991, mitten in der Arbeit an „Böhmen am Meer“. Und ausgerechnet in Lateinamerika scheint die Utopie einen neuen Ort gefunden zu haben!
Braun ist geradezu euphorisch und notiert am 21. Dezember 2005: „washington und der weltbank schwimmt ein kontinent weg. die armut hebt die geballte faust: und streut margeriten.“ Schon acht Jahre zuvor, an der Arbeit für seine Peter-Weiss-Rede, sah er am ehesten in Lateinamerika jenen Ort der Utopie: „chiapas: das wäre ein ort für peter weiss, während in unsern regionen der kampf um den standort geht.“ Lateinamerika als Kontinent der Hoffnung, der die Krise des Kapitals vorantreiben und den Zeitgeist besiegen könnte: Dies ist der Grund, aus dem Braun seinen Optimismus schöpft. Und die Finanzkrise lässt dann auch nicht lange auf sich warten: ein Weckruf, ein Hoffnungsschimmer, ein Strohhalm zurück in die Utopie! Dass Braun sein Arbeitsbuch ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt beendet, liegt möglicherweise daran, dass er ihm ein optimistisches Ende setzen und Hoffnung verbreiten will.
Am 8. Dezember 2008 notiert er nach Alexander Kluges Verfilmung des Marxschen „Kapitals“ (ein altes Eisenstein-Projekt): „die schönste formulierung: man muß till eulenspiegel einmal über marx hinwegziehen lassen, um eine verwirrung zu erhalten, durch die sich erkenntnisse und emotionen neu verbinden.“ Dann hätte die Therapie Aussicht auf Erfolg. Dann ließe sich Arbeit von Grund auf neu denken. „in fünfzig jahren werden die archäologen nach uns graben“, schreibt Braun am 26. September 2007. – So geht Optimismus! Der Patient ist auf dem Weg der Besserung (das Dumme nur: seit 2008, dem Ende von „Werktage 2“, sind schon wieder fünf Jahre verstrichen und der Kapitalismus scheint seine Finanzkrise abgeschüttelt zu haben!). Braun setzt nach wie vor auf den befreienden Charakter der Arbeit – wenn sie denn auf sozialem Grund steht. Sein Arbeitsbuch ist auch in dieser Hinsicht ein therapeutischer Wegbegleiter durch die Jahrzehnte seit dem gesellschaftlichen Umbruch und durch sein Nach-Wende-Werk, lesbar nicht nur für Braun-Kenner.

Volker Braun: Werktage 1990 – 2008, Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 999 Seiten, 39,95 Euro.