17. Jahrgang | Sonderausgabe | 28. Juli 2014

Ukraine und Gewalt

von Erhard Crome

Manche Bücher fallen mitten in die Zeit, ohne dass ihre Schöpfer sich dessen am Anfang bewusst sind. Das lässt sich dann erst im Nachhinein feststellen. Das Hamburger Institut für Sozialforschung, das von Jan Philipp Reemtsma finanziert wird, gibt seit einiger Zeit eine Reihe „Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts“ heraus. Sie werden ausgewählt von den renommierten Historikern Jörg Baberowski, Bernd Greiner und Michael Wildt und präsentieren Forschungsergebnisse junger Wissenschaftler. Felix Schnell, der sich auf die Geschichte Osteuropas spezialisiert hat, promovierte 2004 in Bielefeld zum Thema: „Ordnungshüter auf Abwegen? Herrschaft und illegitime polizeiliche Gewalt in Moskau, 1905-1917“. Danach setzte er die Forschungsarbeiten zu diesem Themenbereich fort und habilitierte sich im Jahre 2011 an der Berliner Humboldt-Universität mit einer umfangreichen Arbeit zu „Gewalträumen und Gruppenmilitanz in der Ukraine“ in den Jahren 1905 bis 1933. Diese Arbeit hat das Hamburger Institut dann einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Unter den derzeitigen Umständen der „Ukraine-Krise“ gewinnt sie eine spezifische Bedeutung.
Die russische Revolution von 1905, der Erste Weltkrieg, der den Revolutionen von 1917 folgende Bürgerkrieg und schließlich die Stalinsche Kollektivierung der Landwirtschaft hatten Millionen Menschen in Tod und Verderben gestürzt. Eine nähere Untersuchung zeigt jedoch, dass nur zum Teil der Staat oder staatliche Organisationen Träger der Gewalt waren, in hohem Maße jedoch nichtstaatliche Akteure: Banden, paramilitärische Verbände und staatliche Einheiten, die von der Zentrale nicht mehr kontrollierbar waren. Der soziale Wandel in Russland brachte insbesondere seit der Bauernbefreiung 1861 eine Fülle von Problemen mit sich, die mit der Modernisierung und Industrialisierung, Arbeitsmigration, Bevölkerungswachstum und so weiter verbunden waren. Zugleich war der Staat strukturell schwach und auf dem Lande „allenfalls symbolisch präsent, seine Vertreter physisch aber meistens abwesend. Wo das Gewaltmonopol zwar beansprucht, aber konkret nicht realisiert werden konnte, mussten im Alltag andere Gestalten an seine Stelle treten. Daraus resultierte ein Potenzial der bäuerlichen Gesellschaft, mit kollektiver Gewalt für Ordnung zu sorgen, die sich im Grenzfall aber auch gegen die Rechtsordnung des Staates selbst wenden konnte.“
Gelegenheitsstrukturen erklären für sich genommen jedoch noch nichts, die Akteure sind das eigentliche Problem. Der erste Pogrom fand 1903 in Kischinjow (das damals im weitesten Sinne zur Ukraine gerechnet wurde, heute Moldawien) statt, es folgte eine Welle der Gewalt während der Revolution von 1905. Opfer waren vor allem Juden, aber auch Angehörige der sozialen Eliten und Intellektuelle. Täter war ein Mob, dessen Kern junge Männer aus den städtischen Unterschichten bildeten. Der Staat und seine Vertreter waren teils in die Untaten verwickelt, zum Teil waren sie parteiisch zugunsten der „Pogromhelden“ oder „verbrecherisch neutral“. Der Erste Weltkrieg führte zu weiterer Entwurzelung der Bevölkerungen, Untergrabung der Staatlichkeit und war insgesamt eine „Schule der Gewalt“. Millionen Bauern lernten das Kämpfen, wurden dem friedlichen Leben entfremdet und kehrten oft schwer bewaffnet in ihre Dörfer zurück.
Es gab nicht nur Dörfer, die als bewaffnete Einheiten „ihre“ Gutsherren enteigneten, wie oft in den sozialistischen Geschichtsbüchern zu lesen war, sondern es bildeten sich auch ganz ordinäre Räuberbanden, die die Abwesenheit staatlicher Macht zu nutzen verstanden. Nach dem Abzug der deutschen Truppen Ende 1918 entstanden „Warlord“-Strukturen, die sich verstetigten. Insgesamt kamen im Bürgerkrieg mehr Menschen durch Gewalt gegen Schwächere und Wehrlose, Mord und Folter, bei Raub und Plünderung ums Leben, als in den Kämpfen der militärischen Verbände. Der Sieg der Bolschewiki beendete den Bürgerkrieg, aber in den 1920er Jahren war der Staat auf dem Dorf nicht präsenter als zur Zarenzeit. So dienten die Stalinsche Kollektivierung der Landwirtschaft ab 1928 und der „Große Hunger“ 1932/33 nicht nur dazu, den Widerstand der Bauern zu brechen, sondern den Staat bis „nach unten“ durchzusetzen.
Gewalt in einem Gewaltraum wie diesem ist nicht nur als Mittel zur Durchsetzung rational identifizierbarer politischer, ideologischer oder ökonomischer Ziele zu interpretieren, die wiederum Resultat bestimmter Ursachen sind. Einmal in Gang gesetzt, entwickeln Gewaltprozesse vielmehr eine Eigendynamik, die sich von den ursprünglichen Ausgangspunkten, Absichten und Motiven löst, und sie verlaufen nicht nach vorher gemachten Plänen. Träger der Gewalt sind zumeist junge, gewaltbereite Männer. Gewalträume fördern die „militante Vergemeinschaftung“, wobei die Gewaltbereitschaft nicht notwendig instrumentell und zweckrational zu begründen ist. Die Folge sind „Gewaltkulturen“ und „Raubökonomien“. Sie verlängern die Dauer von Gewalt und stabilisieren die Gewaltverhältnisse. Dennoch kommt die Gewalt in aller Regel zu einem Ende, kollabieren Gewalträume schließlich: „durch Übermächtigung von außen, durch den Sieg einer der konkurrierenden Konfliktparteien oder schließlich auch durch ökonomische Erschöpfung des umkämpften Gebietes, seiner Bevölkerung und der Kämpfer“.
In Bezug auf die Ukraine wäre es jetzt interessant zu untersuchen (das ist nun aber nicht mehr Schnells Thema), inwiefern sich die ukrainischen Freiwilligen, die sich im Zweiten Weltkrieg den deutschen SS-Truppen zur Verfügung stellten, aus Personal rekrutierten, die solchen vorhergehenden Gewaltstrukturen entstammten – von 1933 bis 1941, bis zum Überfall auf die Sowjetunion waren es schließlich nur acht Jahre. Nach dem Sieg über Hitlerdeutschland 1945 dauerten bewaffnete Kämpfe in den westlichen Teilen der Ukraine noch bis in die 1950er Jahre, und es gab nochmals Übergriffe gegen bestimmte Bevölkerungsteile, darunter Polen. Dann wiederum wäre es ein Thema, welche Traditionslinien geistig-ideologisch, generational und mythenbildend von dort bis zu den faschistischen Gruppierungen von heute geführt haben. Nach den heute vorliegenden Informationen haben die nationalistischen, quasi-faschistischen Einheiten im Westen des Landes bereits in den 1990er Jahren mit ihrer militärischen Ausbildung und Formierung begonnen. Sie waren dann der „harte Kern“ auf dem Kiewer Maidan, haben aktiv und gewaltsam zum Zusammenbruch der gewählten Janukowitsch-Regierung beigetragen und sind jetzt als Teil der „Nationalgarde“ im Osten des Landes im Gewalt-Einsatz.
Festzuhalten bleibt, dass sich die Voraussetzungen für die Entstehung jener Gewalträume in der Ukraine mit der Krise der gesellschaftlichen Verhältnisse und des zaristischen Staates im Russland Anfang des 20. Jahrhunderts ausformten. Woran sieht man, dass der Staat schwächer wird? In der Wissenschaft von den internationalen Beziehungen entstanden ganze Bibliotheken voller Bücher über gescheiterte oder scheiternde Staaten, im Fachjargon: Failing States oder Failed States. Es steht zu befürchten, die Ukraine ist wieder auf dem Wege dorthin.

Felix Schnell: Räume des Schreckens. Gewalträume und Gruppenmilitanz in der Ukraine. 1905-1933, Hamburger Edition, Hamburg 2012, 575 Seiten, 28,00 Euro.