von Frank-Rainer Schurich
Ingo Wirth und Remo Kroll haben in ihrer „Schriftenreihe Polizei. Studien zur Geschichte der Verbrechensbekämpfung“ nicht nur einen dritten Band herausgebracht, sie haben ihn auch gleich selbst geschrieben. Entstanden ist eine erstklassige, informative und mit Akribie erarbeitete Monografie, die nicht nur Fachleute überzeugen dürfte – auf fast 500 Seiten fiese Verbrecher und intelligente Ermittler, die den Tätern immer auf der Spur waren.
Wer allerdings damals, als es die DDR noch gab, in das Statistische Jahrbuch von 1971 schaute, wunderte sich ein wenig. Die Kriminalität, die dem Sozialismus bekanntlich wesensfremd war, ging weiter zurück, und Mord und Totschlag tauchten als Kategorien gar nicht mehr auf.
Die immer wieder gestellte Frage zu diesem Thema ist doch, ob es in der DDR überhaupt Morde gab oder geben durfte, wo doch nach den vorherrschenden Auffassungen von Kriminalpolitik und sozialistischer Kriminologie sämtliche Kriminalitätsursachen einfachheitshalber ausgelagert wurden. Entweder gab man schnöde dem Klassenfeind Schuld, oder es waren die rudimentären Elemente der bürgerlichen Moral, die in verschiedenen DDR-Bürgern höchst kriminogen nachwirkten.
Die Autoren klären uns gleich am Anfang auf. Im Kapitel über die Tötungskriminalität in der DDR wird darüber berichtet, dass es 1948 auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone 348 Mord- und Totschlagsfälle gab, im letzten Jahr der DDR noch 132. (Eine solche niedrige Quote – ein Mord auf 100.000 Einwohner – hatte wohl kein anderes Land in der weiten Welt aufzuweisen.) Im Durchschnitt waren es tatsächlich rund 130 Fälle im Jahr, wobei, strafrechtlich gesehen, drei Viertel als Mord und ein Viertel als Totschlag klassifiziert wurden.
Interessanterweise veröffentlichte man ab 1971 im Statistischen Jahrbuch keine Zahlen mehr, weil Morde nicht zum entwickelten System der DDR passten; erst sechs Jahre später wurde für den Zeitraum 1970-1974 ein Durchschnittswert angegeben: 146 vorsätzliche Tötungsdelikte. Die außergewöhnliche Schwere der Tat und die damit einhergehende öffentliche Aufmerksamkeit haben der Morduntersuchung schon immer einen sehr hohen Stellenwert eingeräumt. Der unbedingte Aufklärungswillen wurde oftmals zum Ausgangspunkt untersuchungsmethodischer Innovationen. Das galt auch für die Morduntersuchung in der DDR, wo man diesem Thema in Forschung und Lehre gleichermaßen eine besondere Bedeutung beigemessen hat.
Für den vorliegenden Band haben die Autoren bisher unveröffentlichte Quellen ausgewertet sowie statistische Daten und repräsentative Studien analysiert, wodurch Ausmaß und Struktur der Tötungskriminalität in der DDR klar sichtbar werden. Kriminalfälle, die die DDR bewegten, werden in verschiedenen Kapiteln beschrieben. So lesen wir über den Fall des Willy K. (1946-1948), des „Schreckens der brandenburgischen Wälder“. Die Fahndung nach ihm ging unter dem Decknamen „Aktion Roland“ in die Kriminalgeschichte ein. Willy K. tötete vier Frauen, beging 23 Vergewaltigungen und unzählige Eigentumsdelikte. Wir lesen vom dreifachen Frauenmörder Hilmar S., der 1969 an einem Tag drei Intimpartnerinnen ermordete.
In diesen kriminellen Reigen reiht sich auch Erwin Hagedorn ein, der 1969 und 1971 in Eberswalde drei Jungen sadistisch tötete. Dieser wohl bekannteste Serienmörder der DDR konnte erst gefasst werden, als klar war, dass ein solcher Täter vor, zwischen und nach den Morden aktiv nach Opfern gesucht haben musste, so dass alle männlichen Schüler der gefährdeten Altersgruppe in Eberswalde und Umgebung befragt wurden, was schließlich den entscheidenden Hinweis zur Festnahme von Erwin Hagedorn brachte. Grundlage dafür war ein herausragendes Täterprofil von Prof. Dr. Hans Szewczyk (1923-1994), der seit 1961 die Abteilung für Forensische Psychiatrie und Psychologie an der Charité der Humboldt-Universität zu Berlin leitete. Heute wird der Begriff des „Profilers“ mit dem FBI assoziiert, das diese Methode angeblich entwickelt haben soll. Es war aber Hans Szewczyk, der das erste wissenschaftlich begründete Täterprofil der Welt im Fall Hagedorn erarbeitete, was mittlerweile auch in der Fachliteratur anerkannt ist. Eine echte DDR-Innovation!
Auch Frauen traten als Mörderinnen in Erscheinung. Die Autoren erzählen den Fall der Serienmörderin Simona K., die ihre Taten in einer Städtischen Frauenklinik verübte, wo sie als Kinderkrankenschwester tätig war. Vier Säuglinge wurden ihre Opfer, mehrere Kinder überlebten die Tat (1986).
Ausführlich berichten Kroll und Wirth über die Morduntersuchungskommissionen der Kriminalpolizei (MUK), über Aufgaben, Struktur, Arbeitsweise, Personal und Ausstattung. Dabei wird deutlich, dass hervorragend ausgebildete und erfahrene Kriminalisten die Ermittlungen führten. Die Abschlüsse teilten sich wie folgt auf: 87,6 Prozent der Leiter verfügten über einen Hochschulabschluss (der Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität zu Berlin beziehungsweise der Hochschule der Deutschen Volkspolizei), 9,6 Prozent der Offiziere waren Absolventen der Sektion Kriminalistik, 2,4 Prozent der Offiziere der MUK hatten einen anderen Hochschulabschluss, 73,5 Prozent der Offiziere hatten die Fachschule des Ministeriums des Innern der DDR in Aschersleben besucht. Das erklärt auch, warum die allermeisten Tötungsverbrechen in der DDR aufgeklärt werden konnten.
Im Kapitel über Fälle aus der Untersuchungstätigkeit des MfS wird unter anderem der Mord durch den MfS-Oberleutnant Wolfgang M. erzählt, der seine Frau in einem Waldgebiet bei Wandlitz erschoss (1971). Diesen Fall erfand der Journalist Peter-Ferdinand Koch als eine abenteuerliche Geschichte neu, die beweist, dass es bei der Betrachtung der DDR keinesfalls um Wahrheit geht. Koch machte aus dem Tod der Ehefrau von M., so die Verfasser, „eine filmreife Szene im Zusammenhang mit einem bewaffneten Putschversuch gegen Walter Ulbricht, inszeniert durch Erich Honecker. In der Fantasie des Journalisten wurden Frau M. bei einem Schusswechsel zwischen Ulbrichts und Honeckers Personenschützern in Dölln getötet“. Kochs Fabel geht so: „Plötzlich Hektik, in der ein Personenschützer, der MfS-Oberleutnant Wolfgang M. mit seiner Pistole auf die ‚Angreifer‘ feuerte. Die schossen zurück. Ein Querschläger durchschlug den Kopf einer zufällig anwesenden Besucherin: M.s 30-jährige Ehefrau Renate – tot.“
In den Spezialkommissionen (SK) des Ministeriums für Staatssicherheit waren fachlich ebenfalls sehr gut ausgebildete Mordermittler tätig. Darüber lesen wir: „Die notwendige hohe Qualifikation für die Tätigkeit in einer Spezialkommission wurde am Ausbildungsstand deutlich. Von den 15 SK-Leitern besaßen 13 einen Universitätsabschluss als Diplomkriminalist und zwei einen Fachschulabschluss.“
Neben Ausführungen zu Mord und Totschlag in der DDR gibt es auch Kapitel über Suizide, über die Untersuchung von Katastrophen (unter anderem des Eisenbahnunglücks von Langenweddingen oder des Flugzeugabsturzes bei Königs Wusterhausen). Eine umfangreiche Bibliografie zur Tötungskriminalität in der SBZ/DDR bekräftigt den hohen fachlichen Anspruch dieser Veröffentlichung.
Und was lehrt uns dieses Buch? Viel, denn es beweist, dass in der DDR engagierte, sehr gut ausgebildete Kriminalisten am Werke waren, die ihren Auftrag verstanden hatten: Die Verbrechen müssen aufgeklärt und die Täter ermittelt werden. Heute gibt es das Hochschulfach Kriminalistik nicht mehr, das 1994 komplett mangels Bedarf (?) „abgewickelt“ wurde. Der innenpolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion in Brandenburg, Björn Lakenmacher, lobte nun Ende Januar 2014 die aus der DDR übernommenen Kriminalisten in der brandenburgischen Polizei über den grünen Klee und bezeichnete sie als „vorzügliche Experten“. Das Bundesland zehre davon immer noch, so Lakenmacher weiter, doch gehe dieser Spezialistenkreis demnächst „in Serie in Pension“. Damit gehe das Fachwissen der Beamten verloren, die in der DDR an der Berliner Humboldt-Universität das Fach Kriminalistik studiert haben.
Man kann allen Kriminalpolitikern dringend empfehlen, das Buch von Ingo Wirth und Remo Kroll zu lesen, denn es liefert hilfreiche Einsichten in die Prozesse der Ausbildung von Kriminalisten und in eine sehr erfolgreiche Aufklärungspraxis, nicht zuletzt durch die genaue Schnittstellen-Analyse der damals praktizierten Kooperation verschiedener Fachvertreter mit ihren jeweils spezifischen Kompetenzen. Die Einheit von Theorie und Praxis ist eben nicht die schlechteste Voraussetzung, wenn man nicht nur in Reden, sondern wirklich etwas gegen die überbordende Kriminalität tun will.
Ingo Wirth und Remo Kroll: Morduntersuchung in der DDR, Verlag Dr. Köster, Berlin 2014, 459 Seiten, 29,80 Euro.
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