von Ulrich Busch
Bei der Beurteilung der Umgestaltungen in Mittel- und Osteuropa Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre überwog anfangs die Auffassung, dass es sich hierbei um Reformen handele, um Prozesse also, die eher zur Systemstabilisierung denn zur Systemveränderung führen würden. Aber schon bald wurden aus den Reformen Revolutionen, gesellschaftliche Umbrüche, die in einen Systemwechsel mündeten. Das historische Resultat war schließlich die Beseitigung des Staatssozialismus als Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und seine Ersetzung durch kapitalistische Markt- und Geldwirtschaften sowie politische Ordnungen bürgerlicher Demokratie.
Zweifellos trug dieser Umbruch nicht nur progressive Züge, sondern auch gegenteilige Merkmale, weshalb sich manch einer mit dessen Benennung als Revolution schwer tut. Eine Rückkehr zu vorsozialistischen Zuständen hat es aber auch nicht gegeben, weshalb Bezeichnungen wie Restauration oder Konterrevolution erst recht nicht zutreffend sind. Einen Ausweg aus dem terminologischen Dilemma bot der Begriff Transformation: in ihm sind Reform und Revolution gleichermaßen dialektisch „aufgehoben“ (Dieter Klein). Zudem ist dieser Begriff ideologisch weniger aufgeladen als andere Termini; er bietet daher Raum für unterschiedliche Interpretationen. Im Umbruchdiskurs konnte er sich rasch durchsetzen und gibt deshalb hier seit fünfundzwanzig Jahren den Ton an. Dabei interpretieren ihn die einen als Transition oder „übergangslosen“ Wechsel von einem System zum anderen (Helmut Wiesenthal), während andere bei seiner Verwendung gerade den Prozesscharakter dieses Wechsels, den Übergang, die Destruktion des Alten und die Neukonstitution des Künftigen, betonen.
Einige Autoren tendieren dazu, Transformation als „universelles Catch-Wort“ (Michael Thomas) zu betrachten, das sich für die Untersuchung und Konzeptualisierung vielfältiger gesellschaftlicher Prozesse eignet, so dass es schließlich im evolutionär verstandenen Prozess des sozialen Wandels aufgeht. Demgegenüber versuchen andere Interpreten den Transformationsbegriff inhaltlich dem Revolutionsbegriff anzunähern und ihn für sozioökonomische Umbrüche von welthistorischer Dimension und, was noch wichtiger ist, von progressivem Charakter, zu reservieren. Um die solcherart relevanten Umgestaltungen besonders hervorzuheben und sie von den vielen kleinen Veränderungen und säkularen Wandlungsprozessen im Entwicklungsverlauf hinreichend abzuheben, wird seit einiger Zeit der Terminus Große Transformation bemüht. Dieser 1944 von Karl Polanyi („The Great Transformation“) für die Herausbildung des Industriekapitalismus geprägte Begriff erlaubt es, den postsozialistischen Systemwandel anders als vom Mainstream indoktriniert zu interpretieren. Während dieser den postsozialistischen Umbruch als bloße „Transition“ begreift, die das Ende eines fehlgeschlagenen Experiments, des Staatssozialismus, und den Wiedereintritt der Transformationsländer in die historische Normalität markiert, erscheint er nunmehr, in alternativer Lesart, als Moment eines welthistorischen Umbruchs, vergleichbar nur der Neolithischen Revolution und der kapitalistischen Industrialisierung, als den beiden großen Transformationen bisher in der Geschichte.
Die Exponenten der These von der dritten Großen Transformation gehen davon aus, dass diese bereits in den 1970er Jahren begonnen hat, bis heute aber andauert. Die „friedlichen Revolutionen“ in Mittel- und Osteuropa platzten faktisch mitten in den historischen Umbruch hinein, was zu dessen Beschleunigung hätte beitragen können. Diese Hoffnung hat sich jedoch nicht erfüllt: Statt zum „Auftakt“ für „tief greifende Wandlungsprozesse in Europa und der globalen Welt“ (Rolf Reißig) wurde die „Wende“ in Mittel- und Osteuropa weltweit zum Impuls für eine forcierte Finanzialisierung. Aus der Sicht einer linken Umbruchperspektive muss die postsozialistische Transformation daher heute als große Enttäuschung erscheinen, als „ein fehlgeschlagenes Projekt“ (Michael Thomas). Dabei wird jedoch zu wenig beachtet, dass sich mit dem Finanzmarktkapitalismus seit den 1980er Jahren eine modifizierte Variante der modernen kapitalistischen Gesellschaft durchgesetzt hat.
Auch wenn diese sich in mancher Hinsicht als „Perversion“ (Rainer Land) des erwünschten gesellschaftlichen Modellwechsels erweist, so handelt es sich bei der finanzkapitalistischen Transformation doch um einen realen Vorgang, der mit dem Übergang zur Dienstleistungswirtschaft und zur Digitalisierung sowie komplexen Automatisierung der Produktion in seinem Kern den Umbau der Produktionsweise impliziert und mit der Individualisierung der Lebensstile wichtige Grundlagen für eine neue Lebensweise schafft. Demgegenüber aber bleibt die dritte Große Transformation, die Ablösung der kapitalistisch-industriellen Produktionsweise und bürgerlichen Ordnung im globalen Maßstab und die Herausbildung einer postkapitalistischen (kommunistischen) Gesellschaft, vorerst virtuell. Der „Pfadwechsel“ zur „ökologisch-nachhaltigen und solidarischen Weltgesellschaft und Weltwirtschaft“, den Rolf Reißig auszumachen glaubt, ist heute lediglich ein Thema vager Zukunftsprojekte und politischer Programme. Ihn bereits als Tatsache auszugeben, als „hier und heute“ schon begonnen, scheint indes überzogen und realitätsfremd. Zumal, wenn die Kriterien dafür an sekundäre Veränderungen gebunden werden, zum Beispiel an die Existenz „ökologischer Netzwerke“ und „autonomer Energiedörfer“, von Genossenschaften und „guter Arbeit“, sozialer Teilhabe, von Demokratie und liberalen Grundrechten. Geradezu absurd mutet es an, wenn diese Aufzählung durch utopische Ideen wie die Zahlung eines bedingungslosen Grundeinkommens komplettiert wird. Ein Blick auf die Probleme der Entwicklungsländer und die sich in der Industrialisierungsphase befindenden Schwellenländer offenbart, wie weit derartige Vorstellungen von der Realität entfernt sind. Die neue Große Transformation kann aber nur als eine globale Transformation gedacht werden!
Die beiden Großen Transformationen der Vergangenheit waren deshalb „Zeitenwenden“ und welthistorische Umbrüche, weil sie die Gesellschaften jeweils universell und als Ganze revolutioniert haben. Zuerst und vor allem aber revolutionierten sie die gesellschaftliche Produktion, das heißt die Art und Weise der Aneignung der Natur durch den Menschen – einmal durch den Übergang zur Agrarwirtschaft, das andere Mal durch die Industrialisierung. Was aber ist in dieser Hinsicht das wirklich Neue bei der dritten Großen Transformation? Für einen vergleichbaren grundlegenden und welthistorischen Umbruch der Produktionsweise lassen sich derzeit kaum Belege beibringen. Dies nährt den Verdacht, dass es sich bei diesem Ansatz, bei der These von einer neuen großen „Gesellschaftstransformation“, wofür die postsozialistische Transformation den „markanten Auftakt“ (Rolf Reißig) bilden soll und deren Akteure die „Avantgarde“ (Wolfgang Engler), um eine illusionäre Vorstellung handelt, die aus dem Wunsch, dem realen Sozialismus und der postsozialistischen Umgestaltung posthum doch noch historischen Sinn zu verleihen, hervorgegangen ist, nicht aber um eine dem realen Entwicklungsverlauf gerecht werdende Theorie.
Schlagwörter: Kapitalismus, Sozialismus, Transformation, Ulrich Busch