17. Jahrgang | Nummer 13 | 23. Juni 2014

Ein Glückwunsch für Wulf Kirsten

von Wolfgang Brauer

Wie kommt man einem Dichter auf die Spur? Es ist seit einigen Jahren Mode geworden, das Werk gleichsam als Folie der Biografie zu betrachten. Das geht in die Irre. Zumal: Was macht man mit einem Dichter, dessen literarische Landschaft sich auf einen recht engen Radius begrenzt, der wieder und wieder „die erde bei meißen“ durchmisst, dessen „Fixpunkt, der in Beziehung zur Welt steht“, das Elbtal ist und immer wieder das Elbtal? Die Rede ist von Wulf Kirsten. Diesem aus der Reihe tanzenden Poeten der „sächsischen Dichterschule“, der nicht das Exil im preußischen Berlin suchte. Den es aus den biographischen Zwängen des Broterwerbs – von 1965 bis 1987 arbeitete er als Lektor in der Klassik-Abteilung des Aufbau-Verlages in Weimar – nach Thüringen verschlug. Kirsten, der zu den Unermüdlichen gehörte, die in das provinzielle Ländchen DDR versuchten Welt hereinzuholen. Für Leute wie mich wirkte die Literatur, die Poesie, die Kirsten uns erschloss, antiseptisch gegen Verdummung und Kleingeistigkeit.
Seine eigenen Gedichte, Wulf Kirsten gehört zu den Großen der deutschsprachigen Landschaftslyrik, muss man sehr genau lesen. Da ist die sprachliche Präzision Georg Maurers, da wirken Peter Huchel und Johannes Bobrowski nach. Da ist die Spannung des Dialoges mit Sarah Kirsch, mit Heinz Czechowski, den großen tschechischen Poeten und vielen anderen spürbar.
Im Band „Stimmenschotter“ (1993) findet sich ein Art Selbstporträt: „ein tagträumer … als fauler stauner in blutigen zeiten“ – und im 1970 erschienenen „satzanfang“ die Erklärung: „im weichbild meiner dörfer / red ich mit meinesgleichen“. Hier steht auch der große Text „die erde bei meißen“. Das war programmatisch gemeint und führte mitnichten zu heimattümelnder Selbstgefälligkeit. In der Reflexion des Dichtens und Denkens Elisabeth Langgässers – er ist Träger des nach ihr benannten Literaturpreises – ordnete sich Wulf Kirsten durchaus unbescheiden aber zu Recht, wie ich meine, in die Reihe „paganischer“ Dichter ein. Wilhelm Lehmann und Oskar Loerke sind damit gemeint. Langgässer bezog den Begriff Paganismus, wie Kirsten in seiner Dankesrede zur Alzeyer Preisverleihung bemerkte, „ausschließlich auf dessen Nebenbedeutung ‚heidnisch’…“ Er selbst betont stärker die Erstbedeutung „Dorfbewohner“. Dennoch: Kirstens Poesie ist welthaltig. Sie ist „die hingabe ans wort / das feuer, das in den worten brennt, / der stachel, der schmerzhaft einsticht, / wohin er auch blindlings trifft …“.
Von Martin Walser stammt die wohl prägnanteste Beschreibung des Besonderen der Sprache dieses Dichters: „Die Kirsten-Sprache ist schwer von Vergangenheit. Eine Sprache, in der man sich verproviantieren kann gegen Geschwindigkeit, Anpassung, Verlust.“ Aprospos Verlust: Wenn Dichtung es schafft, Verlust bewusster zu machen, dann hat sie viel erreicht: „… der mythos der wälder fuhr zum schornstein hinaus“. Das ist schon ein harter Vers. Er findet sich im 1977er Band „Der Bleibaum“. Und 1993 forderte der Dichter „die erde / soll sich neu erheben / aus einem unrathaufen“. Ein Idylliker war Wulf Kirsten nie. Das Plakative ist ihm ebenso fremd.
Wie kommt man einem Dichter auf die Spur? „Im Grunde müßte man, will man einen Dichter, […] ganz verstehen, alles kennen, was er gelesen hat…“ Das schrieb Kirsten im Nachdenken über das poetische Geheimnis der Sarah Kirsch. Es wird also immer ein Rest des Unerklärlichen bleiben, Poesie ist nicht vollständig entschlüsselbar. Das ist ihr wirkliches Geheimnis. Das macht auch den Reiz der Dichtung dieses „Landschafters“, wie ihn Adolf Endler einmal nannte, aus. Es ist die Aufforderung, sich ihr wieder und wieder zu nähern. So wie es Kirsten mit der Erde bei Meißen hielt und hält. Am 21. Juni wurde Wulf Kirsten 80 – wir gratulieren von Herzen! Seine Stimme ist uns wichtig.