von Holger Politt, Warschau
Ein sichtbarer Ausdruck für den wirtschaftlichen Erfolg der zurückliegenden zehn Jahre ist der „Solaris“, Polens bekanntester Autobus. Die geschwungene Frontscheibe ist aus dem Straßenbild vieler Großstädte hierzulande nicht mehr wegzudenken. Auch anderswo leistet der Bus zwischen Tallinn und Düsseldorf seine guten Dienste: die nach dem berühmten Roman von Stanisław Lem benannte Marke ist mittlerweile der meistproduzierte Stadtbus in der EU. Eine Erfolgsgeschichte, die gerne anführt, wer den positiven Entwicklungstrend in der Wirtschaft des Landes zu illustrieren sucht. Zugleich nur ein kleines Beispiel, denn in den vier Solaris-Fabriken arbeiten ganze dreitausend Menschen, gleichermaßen ein Tropfen auf den heißen Stein, vergleicht man es mit den zigtausenden Arbeitsplätzen, die seit der EU-Mitgliedschaft allein in der Werftindustrie Polens verloren gingen. Dennoch setzt sich Polens Wirtschaftskraft heute zu einem großen Teil aus vielen solcher beachtlichen Beispiele zusammen, woraus sich miterklärt, dass Polen heute bei der Pro-Kopf-Berechnung des Bruttoinlandprodukts 70 Prozent des EU-Durchschnitts erreicht statt der 47 Prozent vor zehn Jahren.
Vor dem Beitritt wurde vielfach vermutet, die Landwirtschaft werde das größte volkswirtschaftliche Sorgenkind sein, da der Steinkohlenbergbau bereits in den 1990er Jahren die einschneidende Umstrukturierung durchmachte, die mehrere Hunderttausende Arbeitsplätze kostete. Es gab mit „Samoobrona“ (Selbstverteidigung) sogar eine Parlamentspartei, die sich die Verteidigung der einheimischen Landwirtschaft gegen das EU-Diktat auf die Fahnen schrieb. 2006/2007 war die Partei von Andrzej Lepper Koalitionspartner in der von Jarosław Kaczyński geführten Regierung, danach begann der nicht mehr zu vermeidende Abstieg. Wer heute das polnische Dorf besucht, kann gut verstehen, dass die Protestpartei weniger Chancen hatte als geglaubt. Derzeit sind in Polen noch immer etwa 20 Prozent aller Beschäftigten in der Landwirtschaft beheimatet. Das Land zählt zu den großen Fleisch-, Obst- und Gemüseexporteuren der EU, bei der Apfelausfuhr steht es weltweit an erster Stelle, wobei der Löwenanteil bisher nach Russland geht.
Ein wichtiger Indikator für den Stand der EU-Integration des Landes sind jedoch die Beziehungen zum westlichen Nachbarn, zu Deutschland. Ohne gute und stabile deutsch-polnische Beziehungen, deren Voraussetzungen die vorbehaltlose Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch Deutschland einerseits und die umfangreiche wirtschaftliche Verflechtung beider Volkswirtschaften sind, wäre es nicht möglich gewesen, nunmehr vom besten Jahrzehnt überhaupt in der Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen zu sprechen. Als Ende 2007 die Grenzkontrollen zwischen beiden Ländern wegfielen, sprachen viele in Polen von einer Zeitenwende.
Innenpolitisch hat es seit dem Umbruch Anfang der 1990er keine Regierung geschafft, eine wirksame Alternative zum Kurs eines entschiedenen Wirtschaftsliberalismus herauszubilden. Die Pläne der Linksdemokraten, wenigstens einige sozialdemokratische Akzente zu setzen, oder der Nationalkonservativen, die Marktliberalität wenigstens etwas in die Schranken zu weisen, glichen guten Absichten, die an der rauen Wirklichkeit schnell zerschellten. Seit 2007 führen nun die Wirtschafsliberalen der Bürgerplattform (PO) das Regierungszepter. Ihr großer Trumpf ist die Wirtschaftskompetenz, die ihnen in weiten Teilen der Bevölkerung zugeschrieben wird. Allerdings haben sie wenigstens in einer Hinsicht Tribut zahlen müssen: die konservative Flanke in der Partei, die ursprünglich die nationalkonservative Konkurrenz auf Distanz hielt, büßte in den zurückliegenden beiden Jahren viel von ihrem Einfluss ein. Auch die Regierungspartei begann, sich wenigstens einzulassen auf neue Diskurse wie Geschlechtergerechtigkeit und Gleichberechtigung sexueller Minderheiten. Im Januar 2013 bemerkte Ministerpräsident Donald Tusk vor dem Sejm schließlich, homosexuelle Menschen hätten den gleichen Anspruch auf volle Gleichstellung wie andere Menschen auch. Obwohl die Wirklichkeit, daran gemessen, noch viel zu wünschen offen lässt, lassen sich die enormen Fortschritte seit dem Beitritt zur EU nicht mehr übersehen.
Ein Akt ohnmächtiger Wut war folglich, als am 11. November 2013, dem Nationalfeiertag, aus einer blindwütigen Menge heraus ein künstlicher Regenbogen in Brand gesetzt wurde, der auf einem öffentlichen Platz in Warschau die Toleranz der Gesellschaft symbolisieren soll. Pünktlich zum 10. Jahrestag des EU-Beitritts erstrahlt der Regenbogen nun seit dem 1. Mai wieder in frischen Farben, ein Zeichen des Optimismus allemal.
Werden Polens Menschen indes befragt, worüber sie sich am meisten Sorgen machen, dann stehen Arbeitslosigkeit und Gesundheitsfürsorge an vorderster Stelle. Der Druck auf den einheimischen Arbeitsmarkt wird auch weiterhin gemildert durch die hohe Bereitschaft vor allem junger Menschen, den Broterwerb außerhalb der eigenen Landesgrenzen zu suchen, was freilich durch die EU-Bedingungen begünstigt wird. Der allgemein beklagt schlechte Zustand der öffentlichen Gesundheitsfürsorge verdeutlicht hingegen ein anderes Dilemma: die öffentlichen Güter unterliegen nach wie vor einem mit rigider Haushaltspolitik begründeten besonderen Druck, wodurch auf fast allen Gebieten die einzige Alternative in privat finanzierten Lösungen besteht.
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