von Ulrich Busch
Die Veröffentlichung der neuesten statistischen Daten über Berlin signalisiert so etwas wie eine Trendwende: Berlin wächst wieder! Die Einwohnerzahl ist auf mehr als 3,5 Millionen gestiegen und die wirtschaftliche Leistungskraft der Hauptstadt hat sich in den letzten Jahren leicht erhöht. Verstärkt siedeln sich Zukunftsbranchen in Berlin an und sorgen für ein dynamisches Wirtschaftswachstum. Die lange Zeit für Berlin typische „rote Ampel“ bei fast allen ökonomischen Indikatoren konnte endlich abgegeben werden. Berlin ist wieder eine Wachstumsmetropole.
Bemerkenswert ist, dass dieses Wachstum nicht mehr in erster Linie von der Industrie getragen wird, sondern vom Dienstleistungssektor. Der für die fortgeschrittenen Volkswirtschaften typische Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungswirtschaft findet hier unübersehbar seinen Niederschlag. Berlin folgt darin den anderen Hauptstädten und Metropolen Europas: London, Paris, Madrid, Amsterdam, Wien, Brüssel und Kopenhagen leben schon lange ohne große Industrie. Und ihnen fehlt deshalb nichts, weder Arbeitsplätze noch Einkommen, weder wirtschaftliche Dynamik noch Wohlstand. Berlin folgt nun diesem Trend, indem es seine Wirtschaft vom sekundären auf den tertiären Sektor umgestellt und damit auf die Bedingungen des 21. Jahrhunderts eingestellt hat. Dieser Umbruch vollzog sich jedoch alles andere als planmäßig, geordnet und politisch gesteuert. Vielmehr ist er das Ergebnis einer radikalen Marktbereinigung, wie sie durch den Fall der Mauer, die Wiedervereinigung im Jahr 1990 sowie den beschleunigten Subventionsabbau in Westberlin bewirkt worden ist.
Derzeit sind im Verarbeitenden Gewerbe der Hauptstadt 137.500 Personen beschäftigt. Das sind gerade mal 8,25 Prozent aller Erwerbstätigen. 1989 gab es allein in Berlin-Ost mehr als 180.000 Industriearbeiter und -angestellte sowie rund 50.000 Bauarbeiter. Insgesamt existierten in Berlin im Jahr 1990 noch mehr als 400.000 Industriearbeitsplätze. Davon sind bis heute rund drei Viertel verschwunden. Und zwar endgültig. Neu entstanden sind seitdem nur wenige, und die vor allem in hochtechnisierten Bereichen, in IT-Unternehmen und in Zukunftsbranchen.
Insgesamt ist die Zahl der Erwerbstätigen in Berlin über die Jahre hinweg ziemlich stabil geblieben: 1991 waren es 1,67 Millionen, 1996: 1,60 Millionen, im Jahr 2000: 1,58, 2007: 1,61 und 2012 wieder 1,67 Millionen. Was sich in diesem Zeitraum jedoch gewaltig verändert hat, ist ihre Struktur. So arbeitet heute die Mehrzahl der Erwerbstätigen in Dienstleistungsbranchen: 479.600 direkt in öffentlichen und privaten Dienstleistungseinrichtungen, 283.100 in Unternehmen der Grundstücks- und Wohnungswirtschaft oder als Wirtschaftsdienstleister, 283.700 im Handel, Kfz-Reparatur- und Gastgewerbe, 194.300 im Verkehrs- und Kommunikationswesen, 129.600 in der öffentlichen Verwaltung und der Sozialversicherung, 38.500 als Finanz- und Versicherungsdienstleister.
Die größten Arbeitgeber der Stadt sind folglich Dienstleistungsbetriebe wie die Deutsche Bahn AG, Vivantes, die Charité, die Berliner Verkehrsbetriebe, die Deutsche Telekom AG, die Deutsche Post DHL und die Landesbank Berlin. Einziger Industrie-Großbetrieb mit mehr als 10.000 Beschäftigten ist die Siemens AG. Angesichts dieser Zahlen kann es keinen Zweifel mehr geben: Der Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungswirtschaft ist vollzogen, Berlin ist heute keine Industriemetropole mehr, sondern ein riesiges Dienstleistungszentrum.
Damit wurde eine Entwicklung eingeleitet, die nach Jahren der Stagnation und des Niedergangs endlich wieder wirtschaftliches Wachstum generiert. So erhöhte sich das Bruttoinlandsprodukt Berlins im Jahr 2011 um 3,3 Prozent, 2012 um 0,6 Prozent und 2013 um 1,2 Prozent. Im Vergleich dazu wuchs das Bruttoinlandsprodukt der Bundesrepublik insgesamt in den angegeben Jahren mit 3,3 Prozent, 0,7 beziehungsweise 0,4 Prozent tendenziell langsamer. Zuvor war es fast durchweg umgekehrt: Berlin hatte die „rote Ampel“.
Betrachtet man die Entwicklung der Arbeitsproduktivität, so wird jedoch sofort die Kehrseite des eingeschlagenen Entwicklungspfades deutlich: das Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen veränderte sich in Berlin im Jahre 2011 gegenüber dem Vorjahr um +1,8 Prozent, 2012 aber um -2,0 Prozent und 2013 um -0,8 Prozent. In der Bundesrepublik insgesamt verlief die Entwicklung demgegenüber positiver: 2011: +1,9 Prozent, 2012: -0,4 Prozent und 2013: -0,1 Prozent. In diesen Zahlen und ihrem abweichenden Trend dokumentiert sich der „Nachteil“ einer dienstleistungsbasierten Wirtschaft: die Produktivität bleibt hinter der wirtschaftlichen Dynamik zurück. Dies hat Konsequenzen für die Einkommensentwicklung, den Konsum. Es besteht die Gefahr, von den stärker industriell ausgerichteten Regionen ökonomisch abgekoppelt zu werden. Stellt man die wichtigsten ökonomischen Indikatoren für die Metropolregionen Deutschlands einander gegenüber, so ist unschwer zu erkennen, dass diese Gefahr tatsächlich besteht. So liegt zum Beispiel das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Stuttgart um rund 38 Prozent über dem Niveau der Metropolregion Berlin/Brandenburg. Im Raum Frankfurt/Rhein-Main sind es mehr als 50 Prozent, in München sogar 55 Prozent. Das ist ein beachtlicher Abstand, der sich selbst in Jahrzehnten kaum wieder aufholen lässt. Aber es gibt Hoffnung, dass sich Berlin trotzdem auf dem richtigen Weg befindet und dass für die Zukunft hier bessere Aussichten bestehen als anderswo. Diese positiven Erwartungen gründen sich ganz entschieden auf den säkularen Trend zur postindustriellen Gesellschaft. Dieser Trend macht sich derzeit bemerkbar, indem die traditionellen Industrien für die Dynamik und Entwicklung einer Volkswirtschaft an Bedeutung verlieren, ohne freilich gänzlich von der Bildfläche zu verschwinden, während bestimmte Dienstleistungsbereiche kräftig zulegen und an wirtschaftlicher Relevanz gewinnen. Wenn die Zukunft der Wirtschaft ganz wesentlich von den Zukunftsbranchen bestimmt wird, wie von der Kreativwirtschaft, der Kultur, der Forschung, der Bildung und Wissenschaft, der Gesundheitswirtschaft, der Medien oder der Finanzbranche, dann hat Berlin gute Chancen, bald zu den Spitzenregionen aufschließen zu können.
Schlagwörter: Berlin, Dienstleistungssektor, postindustrielle Gessellschaft, Ulrich Busch, Wachstum