17. Jahrgang | Nummer 9 | 28. April 2014

Profitables Geschäft mit Zappelphilipp und Trotzkind

von Peter Schönhöfer

Seit die Pharmaindustrie in den 1990er Jahren die eigene Forschung aus Kostengründen wegrationalisiert hat, ist sie weitgehend innovationsunfähig geworden. Deshalb sehen wir heute in der Arzneimitteltherapie kaum relevante Fortschritte oder gar Durchbrüche, sondern fast nur noch biochemischen Firlefanz ohne oder mit marginalem Zusatznutzen. Das Pharma-Marketing muss sich zur Umsatzsteigerung deshalb mehr und mehr auf fragwürdige Indikationsausweitungen bei Altsubstanzen oder Markterweiterung durch Krankheitserfindungen verlegen. Letztere erspart dem Hersteller zudem den Aufwand für den Nachweis der Wirksamkeit, denn bei erfundenen Krankheiten ist Wirksamkeit weder notwendig noch nachprüfbar und nur als Behauptung zur Vervollständigung von Werbeprospekten erforderlich.
Für die Erfindung von Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen hat ADHS (das AufmerksamkeitsDefizit/Hyperaktivitäts-Syndrom) die Blaupause geliefert. Zwar ist die kindliche Verhaltensstörung „Zappelphilipp“ schon vor über 150 Jahren erstmals als pädagogisches Problem beschrieben worden, aber ein profitables Geschäft für Pharmaindustrie und Ärzte entstand daraus erst, als 1995 mittels der 4. Revision des offiziellen Diagnose- und Statistik-Manuals (DSM-4) die Verhaltensstörung zu einer für Ärzte abrechenbaren Krankheit ADHS umdefiniert wurde. Die war zudem mit einem Altarzneimittel der Firma Novartis aus dem Jahre 1956, Methylphenidat (RITALIN und andere), behandelbar. Novartis konnte nie zeigen, dass das amphetaminartige Stimulans Lernfähigkeit, Schulleistungen, Sozialverhalten oder Kriminalität bei betroffenen Kindern nachhaltig bessert. Ritalin dämpft nur kurzfristig Bewegungsdrang, Erregungszustände und Wutanfälle bei Zappelphilipp-Kindern. Daraus konstruierte die Werbung des Herstellers dann eine generelle Besserung bei ADHS und propagierte so die während der Schulzeit bei 70 Prozent der Betroffenen beobachtbare spontane Besserung der Symptome als Heilwirkung des Medikaments. Vom Hersteller angeheuerte Experten, Meinungsbildner und Elternvertreter reproduzierten die irreführenden Behauptungen in der Öffentlichkeit. Aber auch unkritische Therapeuten rechtfertigten so ihre Verordnungen. Die Umwidmung der Verhaltensstörung in eine Krankheit wurde für das Pharma-Marketing, aber auch für die abrechnenden Ärzte zum profitablen Geschäft, wie sich an der Zahl der ADHS-Diagnosen und Methylphenidat-Verordnungen zeigen lässt:
1995 gab es in Deutschland 5.000 ADHS-Diagnosen, 2011 waren es 750.000.
1995 wurden 1,3 Millionen Tagesdosen RITALIN verordnet, 2011 waren es 56 Millionen.
Auch die bedenklichen Effekte gesponserter Medizinexperten lassen sich an diesem Beispiel zeigen: Medizinprofessoren der Universität Würzburg gründeten 2008 einen Verein, der gesponsert von Pharmafirmen Handlagerdienste für deren Pharma-Marketing von ADHS leistet. 2011 sind die Folgen anhand der Zahl der ADHS-Diagnosen und Methylphenidat-Verordnungen bei 10- bis 12-jährigen Schülern fassbar:
Bundesweit:
Jungen: 12 Prozent ADHS-Diagnosen und 6,5 Prozent Methylphenidat
Mädchen: 4 Prozent ADHS-Diagnosen und 2 Prozent Methylphenidat
Würzburg:
Jungen: 18,8 Prozent ADHS-Diagnosen und 13,3 Prozent Methylphenidat
Mädchen 8,8 Prozent ADHS-Diagnosen und 5,5 Prozent Methylphenidat
Die Firmennähe bewirkt also ein Plus von 60 bis 120 Prozent bei den Diagnosen und von 100 bis 175 Prozent bei den Methylphenidat-Verordnungen. Im Sinne einer rein profitorientierten Gesundheitswirtschaft lohnen sich für Pharmafirmen die finanziellen Zuwendungen an Medizinprofessoren. Mit sachgerechter Patientenversorgung hat das aber nichts zu tun, da qualifizierte Nutzenbelege für Methylphenidat fehlen.
Der nächste Angriff der Hersteller von Psychopharmaka auf Kinder und Jugendliche steht kurz bevor. Er betrifft das übliche Trotzverhalten, eine wichtige Lern- und Reifungsphase von Kindern. Im Mai soll die US-amerikanische psychiatrische Gesellschaft APA die 5. Revision des Diagnose-Manuals DSM-5 offiziell absegnen, in der wiederholte Episoden von Wutanfällen bei Kindern, verbunden mit erregtem, aggressivem Verhalten und Stimmungslabilität, also das Trotzverhalten zu einer behandlungspflichtigen Form der manischen (bipolaren) Depression, der DMDD (Disruptive Mood Dysregulation Disorder) umgewidmet werden. Die Vorbereitungen zur Schaffung dieses neuen Absatzmarkts für Antidepressiva und antipsychotisch wirkende Neuroleptika laufen mit Hilfe von US-Psychiatern wie Biederman und Nemeroff, die dafür von der Pharmaindustrie mit Millionen US-Dollars entlohnt wurden, schon seit den frühen 2000er Jahren. Die Studien hatten einzig das Ziel, bei Kindern mit Verhaltensproblemen den Einsatz von Antidepressiva und Neuroleptika plausibel erscheinen zu lassen. Deshalb wird befürchtet, dass durch die Erfindung der DMDD eine Welle von Modediagnosen, Psychopharmaka-Verordnungen und Abrechnungsmöglichkeiten für Ärzte ausgelöst wird, analog den gesundheitswirtschaftlichen Profiten der ADHS-Story.
Aber das Maß der Bedenklichkeit erscheint ungleich größer. Die Anwendung von Neuroleptika wie Risperidon (RISPERDAL und andere) ist bei Kindern und Jugendlichen besonders riskant, weil die Substanzen tief in die Persönlichkeit eingreifen und so das Wesen und die Lernfähigkeit des Kindes nachhaltig verändern können. Es kommt nicht nur zur Verlangsamung der Mobilität, sondern auch des Denkens und der intellektuellen Leistungsfähigkeit. Auch die körperlichen Störwirkungen sind bedenklich, da die Sterblichkeit Erwachsener wegen plötzlichen Herztods zunimmt. Es kommt zur Auslösung unwillkürlicher Bewegungsstörungen im Sinne eines Parkinsons, zu Sitzunruhe und zu nicht unterdrückbaren Zwangsbewegungen. Stoffwechselstörungen wie Diabetes, lebensbedrohliche Überzuckerung, massives Übergewicht treten auf. Für Kinder besonders gefährlich ist die erhöhte Bildung von Prolaktin, das zu Brustwachstum und Milchausschüttung auch bei Kindern führen kann, aber vor allem zu Störungen der Bildung von Sexualhormonen. Das kann bei Kindern die sexuelle Prägung und Reifung stören oder verhindern, mit der Folge von auch irreversibler Fertilitätsstörung.
Wegen dieser schwerwiegenden Störwirkungen haben Neuroleptika in der Behandlung von kindlichen Verhaltensstörungen nichts zu suchen, auch nicht, wenn diese aus Marketinggründen zu Depressionen umetikettiert werden. Es bleibt unverständlich, dass die APA die Kampagne der Psychopharmakaproduzenten zur Schaffung neuer Absatzgebiete bei Kindern unterstützt. Die Namen von US-Psychiatern wie Biederman, Nemeroff stehen seit dem Untersuchungsausschuss des US-Senators Grassley beispielhaft für Korruption und Profitgier industriehöriger Medizinprofessoren. Die Europäer müssen sich gegen diese ausufernde, unethische und gefährliche Gesundheitswirtschaft amerikanischer Prägung, besonders in Form der angestrebten transatlantischen Freihandelszone, wehren.
Wichtig ist, dass Eltern über die von der Pharmaindustrie geplanten Psychopharmaka-Attacken industriehöriger Psychiater auf Kinder und Jugendliche mit Entwicklungsproblemen informiert werden, denn Neuroleptika und Antidepressiva können deren seelischer und körperlicher Gesundheit mehr schaden als nützen. Leider gibt es industriehörige, korrupte Psychiater und Elternvertreter auch bei uns. Aber es gibt auch anders denkende Psychiater, wie der ADHS-Denkschrift der Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie (DGSP) zu entnehmen ist.