17. Jahrgang | Nummer 2 | 20. Januar 2014

Seekrankheit

von Dieter Naumann

Nach Rügen zu reisen bedeutete bis 1936 (bis zur Fertigstellung des Rügendamms) stundenlange Fahrten mit dem Dampfer ab Stettin, Swinemünde oder Greifswald, weniger lang ab Stralsund. Die Fahrten waren durchaus entspannend, interessant und landschaftlich reizvoll, wenn da nicht das Schreckgespenst Seekrankheit gewesen wäre. Dieses „zwar in höchstem Grade lästige, jedoch nur bei sehr schwachen Individuen … gefährliche Übel” war laut Brockhaus von 1886 mit „Übelkeit, Schwindel und Störung der Gesichtswahrnehmungen“ verbunden, dem schließlich neben wiederholtem Erbrechen „Unempfindlichkeit gegen andere Einflüsse und gänzlicher Lebensüberdruss bei meist ungetrübtem Bewusstsein folgen“.
Kein Wunder, dass alle früheren Reiseführer entsprechende Verhaltensregeln enthielten. Den wirkungsvollsten Rat hatte 1888 der „Neueste Führer von H. Dunker“ parat, der anfälligen Personen empfahl, die Fahrt über Stettin oder Swinemünde bei unruhigem Wetter einfach zu meiden. War das nicht möglich, so galt: „Ein Deckplatz auf der Mitte des Schiffes schützt am meisten gegen die Seekrankheit, wobei der Genuss eines Glases guten Portweins, sowie leicht verdauliche Fleischspeisen sehr zu empfehlen sind. Vollständige Nüchternheit ist dagegen zu vermeiden.“ Das hatte auch Gustav Rasch, Berliner Journalist, festgestellt. 1856 schrieb er, ihm habe nur ein Mittel geholfen, „…ich habe gut gefrühstückt und gut dejeuniert und diniert und dazu recht guten, schweren Rotwein oder Portwein getrunken“.
Der „Führer durch die Insel Rügen“ von Arthur Schuster (1913-1914) empfahl ebenfalls, dem Magen „etwas Konstantes“ anzubieten, auch der Genuss eines Gläschens Portweins oder guten Kognaks sei nicht zu verachten. „Nicht genug kann aber gewarnt werden vor dem übergroßen Genuss von Spirituosen namentlich seitens der Damen und Kinder… Oft werden so große Quantitäten von Kognak und Portwein eingeflößt, dass entschieden auch auf dem Lande ohne Seefahrt nach einem derartigen Genuss Seekrankheit eintreten würde.“
Neben der „Vermeidung vollständiger Nüchternheit“ messen die Reiseführer der Lage an Bord große Bedeutung zu. „Bei hohem Seegang ist die liegende Stellung ein gutes Schutzmittel, und zwar lege man sich beim Stampfen des Schiffes (Bewegung von vorn nach hinten) so, dass Kopf und Füße nach Steuerbord und Backbord zeigen (Querlage) – beim Rollen des Schiffes (Bewegung von rechts nach links – Schaukeln) so, dass Kopf und Füße nach vorn und hinten gerichtet sind. Bei gemischter Bewegung wähle man Längslage.“ Neben diesen Ratschlägen – erneut von Arthur Schuster – werden „Zerstreuung, fröhliche Laune, große Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand sowie starker Wille“ (Richters Reiseführer von 1914) und warme Kleidung, insbesondere eine „feste wollene Leibbinde“ (Agricolas Wanderbücher, um 1906) empfohlen, ansonsten „ängstige (man) sich nicht und lebe wie gewöhnlich“ (Griebens Reisebücher von 1922).
Bodenständiger war Volckmanns „Illustrierter Führer für Land- und Seereisen“ (1906-1907), der wohl Zweifel an all diesen Ratschlägen hatte und deshalb empfahl, bei Übelkeit das „Haupt“ über die Reling zu halten, „ – aber, bitte, leewärts! – , damit Du nicht den lieben Nächsten mit Deinen ‚innersten Gefühlen‘ übersprudelst“. Wie das aussehen konnte, illustrierten bald so genannte Spaßkarten, die mit recht drastischen Karikaturen zeigten, wie Passagiere mit ungesunder Gesichtsfarbe Neptun und seinem Gefolge Mageninhalte opferten…
Vielfältig waren die Erklärungen der Ursachen für die Seekrankheit. Sie „soll ihren Grund in der durch die Bewegung des Schiffes veranlassten Störung des Blutumlaufes haben“, vermutete man in Griebens Reisebüchern von 1896, „vermutlich ungleiche Blutfüllung des Gehirns“ nennt Brockhaus’ „Kleines Konversations-Lexikon“ von 1906 als Ursache, der schon zitierte Gustav Rasch meinte, „die Ursache … liegt offenbar darin, dass die peristaltische Bewegung der Gedärme und des Magens durch die Bewegung des Schiffes eine andere, ihre regelmäßige Bewegung also gestört wird …“.
„Selbstverständlich“ versuchte man dem Übel auch mit allerlei Pülverchen und Wässerchen Herr zu werden. Der schon zitiert Brockhaus von 1886 nennt die früher gegen die Seekrankheit empfohlenen „Spezifica (Opiate, Chloralhydrat, Cocain, alkoholische Getränke u. s. w.)“, die sich jedoch sämtlich als nutzlos erwiesen hätten. In den Reiseführern wird vor allem für „Nautilin“ und „Vasano“ geworben: „Nautilin“ sei „eines der photo-dynamischen Heilmittel aus dem Dr. Ritterschen Laboratorium, München“, dem angeblich „bekannte Seefahrer und Schiffsärzte das beste Zeugnis ausstellen“, heißt es in Richters Reiseführer von 1914. „VASANO MACHT SEEFEST“, war der gängige Slogan der Herstellerfirma Schering in mehreren Reiseführern. „ … neuerdings (sind) günstige Ergebnisse mit dem sog. Vibrierstuhl erzielt worden, dessen Sitz durch einen kleinen Elektromotor in rasche auf- und abwärtsgehende Zitterbewegung versetzt wird, die die Bewegungen des Schiffs paralysiert“, schrieb Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon von 1906.
Neben den Seekranken selbst hatten die Matrosen am meisten unter den Folgen der Seekrankheit zu leiden. Sie waren ununterbrochen beschäftigt, mit langstieligen Bürsten und viel Wasser Deck und Reling der Schiffe wieder zu reinigen, ohne dabei ihren Humor zu verlieren: Sie meinten mit Blick auf die dichtgedrängt Stehenden, die Passagiere sollen sich „das Mittagessen noch einmal durch den Kopf gehen lassen“.