von Klaus Hammer
Im Vorfeld der 100-Jahr-Gedenkveranstaltungen des Ersten Weltkrieges zeigt die Bundeskunsthalle in Bonn mit der Ausstellung „1914. Die Avantgarden im Kampf“ anhand von 300 Werken von gut 60 europäischen Künstlern, wie der Erste Weltkrieg die Zusammenarbeit über die Landesgrenzen hinweg zerstörte, wie die Künstler auf den Krieg reagierten, welche Erschütterungen er bei ihnen auslöste, wie er zu neuen Themen und bildnerischen Verfahren – und damit auch zu neuen Perspektiven für die Kunst – führte. Entscheidend und für immer änderte der Erste Weltkrieg die Sprach- und Bilderwelt in der Kunst. Er führte die Kultur in das Zeitalter des massenproduzierten, industrialisierten Todes, das sich anfänglich noch jeder Beschreibung entzog. Doch schon in den Kriegsjahren, das ist die Auffassung der Ausstellungsmacher, vor allem des Kurators Uwe Schneede, des langjährigen Direktors der Hamburger Kunsthalle, kündigten sich durch radikale Neuanfänge die entscheidenden Positionen der Kunst des 20. Jahrhunderts an: der politisch ambitionierte Nachkriegs-Expressionismus, die Dada-Bewegung, der Verismus, Konstruktivismus, Surrealismus, verstärkt auch die abstrakte Malerei.
Noch unmittelbar vor Beginn des Krieges war sich die Moderne ihrer selbst und ihrer eigenen Geschichte, ihrer Vielfalt und Internationalität bewusst geworden. In ersten umfassenden Ausstellungen rekapitulierte man die Moderne als eigene Phase der Kunstgeschichte. Doch mischten sich in die Aufbruchsstimmung der europäischen Avantgarden bereits Ahnungen, Schrecknisse, das Gefühl, an einer Zeitenwende zu stehen. Alfred Kubin schuf eine eigene Ikonografie der Ängste mithilfe fantastisch kombinierter Inkarnationen des Bedrohlichen und Dämonischen. „Der Krieg“ (1903) personifiziert sich in der Riesengestalt eines martialischen Kriegers, der im Stechschritt über das Schlachtfeld marschiert. Der Krieg ist außer Kontrolle geratenes Menschenwerk, der Kriegsgott ein irdischer Popanz. Mit seinen „Apokalyptischen Landschaften“, in denen das blanke Entsetzen herrscht, gab Ludwig Meidner dem zeitgenössischen Endzeit-Pessimismus einen unverwechselbaren Ausdruck („Die Abgebrannten“, 1912; „Katastrophe“, 1914). Dagegen ließ Luigi Russulo in seinem futuristischen Gemälde „Revolte“ (1911) winzige rote Figuren durch die Stadt stürmen, angetrieben von den unaufhaltsamen „Kraftlinien“, die sich durch die nächtlichen Straßen schneiden.
Viele Künstler waren aber durchaus bereit, den Beginn des Krieges mit patriotischen und aggressiven Bildern zu begrüßen. „Feinde ringsum“ heißt eine Skulptur Franz von Stucks nach einer Parole Kaiser Wilhelms II. vom August 1914. Sie stellt sich ebenso in den Dienst der Kriegsbegeisterung wie Ernst Barlachs Skulptur „Der Rächer“ (1914), der, einem Racheengel gleichend, in die gleiche Richtung zielt wie sein Litho „Der heilige Krieg“ (1914). Dass sich Barlach aber bereits 1915 in einen leidenschaftlichen Kriegsgegner verwandelte, hätte ebenso dargestellt werden müssen. Auch Max Liebermann zeichnete für ein Flugblatt einen säbelschwingenden Reiter, dem er die Bildzeile „Jetzt wollen wir sie dreschen!“ hinzufügte. Auf russischer Seite suchte Natalia Gontscharowa in ihrem Litho-Zyklus „Der Krieg“ (1914) diesen als eine von Gott geschützte, triumphierende Unternehmung darzustellen. Kasimir Malewitsch und Aristarch Lentulow orientierten sich in ihren propagandistischen Blättern am Stil alter Volksbilderbögen.
Doch bald wurde der anfängliche Patriotismus von einem Gefühl der Abscheu, des Grauens und Entsetzens verdrängt. Willy Jaeckel war einer der ersten, der mit seiner Litho-Serie „Memento“ (1914/15) in einer solch leidenschaftlichen Empörung die Schrecken des Krieges darstellte, die an Goya erinnert. In den Holzschnitten „C’est la guerre“ (1916) von Félix Vallotton herrscht zerstörerischer Tumult, ein Gemetzel, ein Kampf Mann gegen Mann findet statt. Fernand Léger beschrieb die unerbittliche Mechanik und Rationalität gespenstischer Kriegsszenen und Kampfhandlungen. Durch Frans Masereels Holzschnittfolge „Steht auf, ihr Toten“ (1917) hallt der Schrei der Soldaten, die sich im Stacheldraht verfangen haben oder von Pfählen aufgespießt sind. Zwei schreiende Köpfe werden von einem Flammenmeer verzehrt.
Oskar Kokoschka wurde vom Kriegsmaler zum Pazifisten in Zeichnungen von kompromissloser Kriegsanklage. Auf einer Pyramide aus Totenschädeln thront der Doppeladler, das Wappentier der österreichisch-ungarischen Monarchie, wie ein Aasgeier mit ausgebreiteten Flügeln („Völkerfrieden“, 1917). Max Slevogt verdammte in seiner Lithografien-Serie „Gesichte“ (1917) die Brutalität des Krieges in halluzinatorischen Ansichten. Gespenstische, entsetzlich verstümmelte Gestalten setzen unbeirrbar den Krieg fort, angetrieben von einer maskierten Bestie, die durch einen Ozean von Blut watet und Leichen auf den Schultern trägt. In „Finale“ schwebt ein deutscher Adler mit gebrochenen Flügeln über einem Gräberfeld, während ein Invalide auf seinen Krücken einer ungewissen Zukunft entgegenhumpelt. Egon Schiele fertigte eindringliche Skizzen von russischen Kriegsgefangenen an, denen man die offene Sympathie mit den Gezeichneten ablesen kann.
George Grosz’ Feder- und Kreidezeichnungen sind scharfe Auseinandersetzungen mit dem von Verbrechen, Gier und Tod durchsetzten Alltag des Bürgers. Max Beckmanns „Kopfoperation eines Verwundeten“ (1915) oder „Das Leichenschauhaus“ (1915) präsentieren eine grauenvolle Welt des Leidens und Sterbens, sein „Selbstbildnis als Krankenpfleger“ (1915) ist gezeichnet vom bitter-leiderfüllten Kriegserleben. Die Grabenbilder von Otto Dix zeigen Soldaten in Unterständen in einer ausgebrannten Landschaft. Er hat sich 1915 nicht nur als „Schießscheibe“ in der Rolle des Opfers, sondern auch als Kriegsgott Mars dargestellt, der von einer futuristisch ver- und zerstörten Welt umgeben wird. Orientierungslos, entsetzt die Hände vor das Gesicht haltend, stellt sich Erich Heckel in einer chaotischen Landschaft dar („Mann in der Ebene“, 1917).
Wilhelm Lehmbruck verband in seiner Skulptur „Der Gestürzte“ (1915-16) – mit letztem Kraftaufwand stützt sich der gekrümmte Körper nicht mit den Armen, sondern mit dem Kopf ab – seine eigene Verzweiflung mit einem symbolhaften Bewusstwerden der Tragödie des Krieges. Als „blutigen Karneval“ hat Ernst Ludwig Kirchner den Ersten Weltkrieg erlebt. Das „Selbstbildnis, zeichnend“ (um 1916) oder der Holzschnittzyklus zu Chamissos „Peter Schlemihl“ (1915) zeigen ihn als gebrochene, von Krankheit gezeichnete Figur. 1915 hatte er zudem seine „metaphorische Autobiographie“ in dem Gemälde „Selbstbildnis als Soldat“ gemalt: Das Gesicht ist zur Maske erstarrt, die rechte Hand nur noch ein blutiger Armstumpf – Zeichen für Kirchners physische und psychische Unfähigkeit zu malen.
Man konnte während der Kriegsjahre nicht mehr so zeichnen oder malen wie vor dem Kriege.
Erschüttert durch die Kriegsgeschehnisse gewann Klee den elementaren Mitteln schon im August 1914 wieder neue Ausdrucksmöglichkeiten ab. Mit der Kombination von Zeichen und Farbformen, mit vielschichtigen Farbtönen, die oft fließend ineinander gehen, schuf er bewegtere, ungegenständliche, expressive Werke, die ein bildnerisches Äquivalent seiner Erlebnisse dieser Zeit sind. „Je schreckensvoller diese Welt (wie gerade heute), desto abstrakter die Kunst, während eine glückliche Welt eine diesseitige Kunst hervorbringt“, notierte er in seinem Tagebuch. Klee stimmte zwar mit Franz Marcs Behauptung der Abstraktion als Antithese zum Krieg überein, konnte aber im Gegensatz zu Marc im Krieg nichts Geistiges erkennen. Er teilte keineswegs Marcs schicksalsbereite Kriegsbejahung. In einer hoch differenzierten, kubistisch konsolidierten Bildarchitektur gelangte er zu einem „kristallinischen“ Abstraktionsstil, den er 1915 sowohl in seiner Graphik als auch in farbigen Werken ausarbeitete.
Die Schrecken des Ersten Weltkrieges waren für die Bewusstseinsbildung der künstlerischen Avantgarde das entscheidende Erlebnis, so verschiedene Wege sie im Einzelnen auch verfolgte. Aber die Ausstellung schließt schon mit dem Jahre 1918. So kann zwar noch gezeigt werden, wie 1915 Kriegsgegner in Zürich Dada aus der Taufe hoben und – wenn auch nicht durch Bilder in der Ausstellung, so doch im Katalog – wie Marcel Duchamp, der 1918 in die USA emigrierte, schon die Grundlagen für die Konzeptkunst legte, wie durch Chirico und Carlo Carra der Surrealismus geboren wurde, wie Mondrian und Malewitsch sich der vollständigen Abstraktion näherten, Tatlin die Voraussetzungen für das Materialbild schuf, aber die eigentliche große Abrechnung mit dem Krieg, die erst in der Nachkriegszeit erfolgte, kann nicht mehr präsentiert werden. Wie die Antikriegsromane und Antikriegsfilme entstanden die großen Antikriegsgemälde erst gegen Ende der zwanziger Jahre.
Max Beckmann war aus dem Krieg mit einem traumatischen Schock zurückgekehrt, seine Absicht war es, den Expressionismus durch eine direkte, „objektive“ Sicht der Ereignisse hinter sich zu lassen, die nichtoffizielle Geschichte zu schildern – sozusagen die Psychogeschichte Europas, die durch Grausamkeit, ideologische Morde und Entbehrungen gekennzeichnet wird. Warum schließt man sie aus, diese Serie von Bildern, von „Die Nacht“ bis zu den großen Triptychen, die Schauplatz moderner Kreuzigungen und Kalvarien sind?
Und warum wird kein Werk aus der obsessiven, wilden und verstörenden Bilderserie von Kriegskrüppeln gezeigt, die Dix 1920 schuf? Weshalb gibt es keinen Hinweis auf die Gefallenendenkmäler Barlachs, die zu den eindrucksvollsten Antikriegs-Kunstwerken überhaupt gehören? Käthe Kollwitz’ Holzschnitt-Serie „Krieg“ (1922/23), das Bild der mütterlichen Gruppe, die gemeinsam widerstehen will, oder die „Mutter, die ihren toten Sohn in die Arme nimmt“ hätte ebenso wenig fehlen dürfen wie Dix’ grauenerregender Radierungs-Zyklus „Der Krieg“, der sich mit den sterbenden, toten oder vermodernden Opfern des Krieges, der Obszönität des Abschlachtens beschäftigt, das er mit eigenen Augen an der Front erlebt hatte. Bis in die 1930er Jahre hat sich Dix mit der Apokalypse des Ersten Weltkrieges auseinandergesetzt, um – vergeblich – vor einer neuerlichen zu warnen. Höhepunkt war sein Triptychon „Der Krieg“ (1929-32). Die Hinwendung zum Verismus, zur Neuen Sachlichkeit bei Grosz, Beckmann, Dix kann nicht überzeugend belegt werden. Kontinuierlich in Veränderung begriffen, keiner Stilrichtung allein und eindeutig zuzuordnen, prägten gerade sie die Kunst mehrerer Stilrichtungen und Zeitabschnitte. Gerade hier ging es um eine grundlegende Umbewertung der Kunst im gesellschaftlichen Gesamtprozess. Auf die Vermittlung jener bisher nie dagewesenen Pluralität künstlerischer Stilkonzepte und ästhetischer Ideologien, die in der Nachkriegszeit gegeneinander, miteinander und nebeneinander wirksam war, muss die Bonner Präsentation verzichten.
Doch das Ecce homo – die künstlerischen Antworten auf die unmittelbare Begegnung mit dem Inferno des Ersten Weltkrieges – können ebenso überzeugend wie erschütternd vorgestellt werden.
1914. Die Avantgarden im Kampf, Bundeskunsthalle Bonn, bis 23. Februar. Katalog 39,00 Euro.
Schlagwörter: Erster Weltkrieg, Klaus Hammer, Kunst, Moderne