16. Jahrgang | Nummer 26 | 23. Dezember 2013

Grundeinkommen für die Ukraine?

von Kai Ehlers

Wer die Bilder vom Treffen der beiden Präsidenten, Janukowytsch und Putin, gesehen hat, die sich gegenseitig in bester Laune zuzwinkern, der weiß, dass in Moskau etwas vereinbart wurde, was außerhalb der üblichen Spielregeln heutiger Politik liegt. Jedenfalls außerhalb dessen, was von den Vertretern und Vertreterinnen des atlantischen Bündnisses, der westlichen Wertegemeinschaft, einschließlich der Protest-Politiker in den Straßen Kiews für möglich gehalten wurde – Die Ukraine wurde für kurze Zeit aus der Schuldenfalle befreit, in die sie in ihrer kurzen Geschichte der Eigenständigkeit seit 1991 geraten ist: Fünfzehn Milliarden Dollar ohne Bedingung, eine Reduzierung der Gaspreise um ein Drittel, Glättung der ins Stocken geratenen Handelsbeziehungen zwischen Russland und der Ukraine, Erörterungen von besseren Eingliederungsbedingungen für in Rußland lebende Gastarbeiter und noch ein paar Kleinigkeiten am Rande. Das ist ein Hilfspaket, das zunächst einmal die wichtigsten ukrainischen Streßbande zu lösen imstande ist. Dagegen waren die Modernisierungsperspektiven, welche die EU der Ukraine in Aussicht stellte, wenn diese die Reform-Bedingungen des Assoziierungsabkommens erfüllte, auch wenn begleitet von 650 Millionen Soforthilfe, eher eine Belastung als eine Hilfe. Ganz unerwähnt sind dabei noch die absehbaren Folgen einer EU-Assoziierung, in deren Zuge der Ukraine wie anderen Randzonen der EU zuvor die Reduzierung auf einen offenen Absatzmarkt für EU-Güter und die Verwandlung in ein Billiglohnland der EU droht.
Selbstverständlich kann aber auch die russische Hilfsaktion die Probleme des Landes auf Dauer nicht lösen. Es gilt, was auch für das bedingungslose Grundeinkommen gilt: Ohne dass irgendjemand arbeitet, kann auch die freigiebigste Gesellschaft ihren Mitgliedern keine dauerhafte Absicherung ihrer Lebensrisiken garantieren. Anders gesagt, auch wenn Präsident Putin versichert, Russland stelle für sein Hilfspaket keine Bedingungen, von einem Beitritt der Ukraine zur Eurasischen Zollunion sei in Moskau nicht die Rede gewesen, so ist doch klar, dass mit dem aktuellen Hilfspaket das Dilemma der Ukraine zwischen europäischer und eurasischer Union nicht gelöst ist. Selbstverständlich existieren Bedingungen, ob sie benannt werden oder nicht: Zum einen ließ Putin keinen Zweifel daran, daß die Vergabe des Kredites voll den Kriterien der internationalen Finanzgepflogenheiten entspreche, das heißt, dass diese Kredite mit Zinsen, gegebenenfalls ihrerseits wieder mit Krediten bedient werden müssen.
Darüber hinaus, und das überschattet alles andere, sind West-EU und Ost-EU in ein Stadium ihrer Entwicklung geraten, das die Frage nach einem prinzipiellen Wechsel des Politikstils zwingend auf die Tagesordnung setzt, wenn Geschichte sich nicht zum dritten oder vierten Mal wiederholen, das heißt, wenn die Ukraine nicht erneut zur Kolonie oder zum Aufmarschgebiet konkurrierender imperialer Mächte werden soll.

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Schauen wir nur zurück auf das Jahr 2008: Bis dahin war die Auflösung der Systemkonkurrenz über mehrere Stufen scheinbar unaufhaltsam in die NATO- und EU-Ost-Erweiterung übergegangen, begleitet von der Entwicklung der sogenannten „Europäischen Nachbarschaftspolitik“ (ENP), deren Nachbarschaftsverständnis sich über sämtliche Nachfolgestaaten der Sowjetunion, ausgehend von Weißrußland, über die Ukraine, den Kaukasus bis nach Kasachstan erstreckte. Proteste Rußlands dagegen, unter anderem der denkwürdige Auftritt Putins auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, bei dem er den Hegemonialanspruch der USA als „einziger Weltmacht“ in Frage stellte und für eine multipolare Weltordnung eintrat, blieben erfolglos. Putin wurde als Störenfried stigmatisiert.
Erst der Einmarsch Rußlands in Georgien 2008 setzte der weiteren Einkreisung Rußlands ein unmißverständliches „Njet“ entgegen; Ergebnis war eine Wende in den Beziehungen zwischen Russland und den atlantischen Verbündeten: EU und NATO stoppten die offene Erweiterungspolitik, die ENP wurde in eine „Neue Ostpolitik“ überführt, die USA zogen sich aus ihrem offenen europäischen Engagement zurück, um sich stärker auf Asien auszurichten. Als „östliche Partnerschaft verfolgt die „Neue Ostpolitik“ seitdem nicht mehr den Beitritt, sondern die „Anbindung“ der „unmittelbaren Nachbarn“ durch langfristige Einbeziehung in eine von der EU ausgehende Freihandelszone, um „die politische Assoziierung und die wirtschaftliche Integration“ mit diesen Staaten voranzubringen.
Unter „unmittelbare Nachbarn“ wurden dabei aber nach wie vor nicht nur Weißrußland, Moldau und die Ukraine, sondern auch Georgien, Aserbeidschan und Armenien subsumiert. Nach dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens zur EU, hieß es zu Begründung, seien auch diese Länder via Schwarzes Meer als engere Nachbarn zu verstehen.
Seit diesem EU-Gipfel im Mai 2009 laufen die sog. Assoziierungsverhandlungen mit den genannten Staaten. Der Abschluß eines Vertrages mit der Ukraine auf dem 3. Gipfel der „Östlichen Partnerschaft“ in Vilnius vor wenigen Wochen war als Krönung dieser Politik gedacht, nachdem mit Georgien bereits eine Einigung erzielt worden war. Mit dem Vertrag sollten die Weichenstellung der Ukraine in Richtung Westen besiegelt und damit auch die zögernden Regierungen von Armenien, Aserbeidschan, Moldawien und Weißrußland mitgezogen werden. Mit dem Rückzug der Ukraine aus der geplanten Unterzeichnung des Vertrages sind diese Pläne erst einmal gebremst. In der EU herrscht Verwirrung und Katerstimmung; ihre Ostpolitik muß neu ausgerichtet werden.
Ergebnis des georgischen Krieges war aber auch die Besinnung Rußlands auf seine historische Rolle als „Eurasischer Integrationsknoten“. Diese Orientierung hatte Putin bereits bei seinem Amtsantritt 2000 als Rußlands notwendige Perspektive vorgegeben; nach 2008 war er, war Russland bereit und fühlte sich stark genug diesen Weg effektiv zu beschreiten. Anders als gemeinhin berichtet, war es jedoch nicht Putin, der die „Eurasische Union“ 2009 ausrief, sondern der kasachische Präsident Nasarbajew. Putin griff die Initiative auf. Die Eurasische Union soll ihren Vorstellungen folgend nach dem Modell der Europäischen Union entstehen, aber deren Fehler nicht wiederholen. Eine Wirtschaftsunion zwischen Kasachstan, Russland und Weißrußland bildete die Ausgangsbasis. Tadschikistan war zum Beitritt bereit. Kirgisien könnte folgen. Die übrigen zentralasiatischen Staaten, ebenso wie die Ukraine und die kaukasischen Staaten liegen in Blickrichtung. Schnelle Erweiterungen, wie sie die EU in die Krise getrieben haben, sollen jedoch vermieden werden. Für 2015 ist die Gründung der politischen Union im Plan.
Aus Brüssel wurde die Eurasische Union ungenau wahrgenommen. Einerseits wurde sie als möglicher Garant der Stabilität, auch als mögliches Bollwerk gegen China sowie gegen den wachsenden Einfluß der „Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit“ (SOZ) begrüßt. Zugleich wurde sie aber auch als Produkt einer Großmannssucht Wladimir Putins bespöttelt und durch vermehrte Einflußnahme auf die Staaten der eurasischen Integrationszonen zu hintertreiben versucht. Das gilt insbesondere für die Politik gegenüber der Ukraine, dem nachgeordnet auch für Weißrußland, sowie die kaukasischen und zentralasiatischen Staaten.
Dabei zogen die EU und USA ungeachtet ihrer seit 2008 geänderten Arbeitsteilung nach wie vor an einem Strang zur Eindämmung russischen Einflusses und tun das bis heute, auch wenn zu sagen, ist, daß die Kaukasus- und Zentralasien-Politik der EU, wie auch die der USA, anders als während der NATO- und EU-Erweiterungen nicht mehr in die offene Konfrontation ging – wenn man die Raketenstationierung vor den Grenzen Rußlands nicht in Betracht zieht. In der Stationierung wird allerdings eine andere Realität hinter der vordergründigen Zurückhaltung sichtbar. Offensichtlich ist jedenfalls, daß über die Strategie, die gegenüber dem Aufkommen der Eurasischen Union einzuschlagen ist, in den Jahren nach 2008 noch keine Einigkeit im atlantischen Bündnis gefunden wurde, auch wenn Altstratege Brzezinski im Zuge der von ihm konstatierten Verschiebung des globalen Machtzentrums von West nach Ost inzwischen vorschlägt, die Eindämmung Rußlands nicht mehr durch Ausgrenzung aus dem atlantischen Lager, sondern durch Einbindung in dieses zu erreichen.
Ungeachtet dieser Widersprüche im atlantischen Lager verdichtete sich die Idee der Eurasischen Union seit 2011 zur Zollunion zwischen Russland, Kasachstan und Weißrußland, gibt es inzwischen eine gemeinsame Wirtschaftskommission, die in Moskau mit einem Büro von mehr als 1.000 Mitarbeiter/innen tätig ist. In Rußland regen sich Stimmen, die nicht nur Tadschikistan und andere zentralasiatische Länder, sondern auch die kaukasischen Staaten in die Union einbeziehen möchten. Indien und die Türkei zeigen sich interessiert an Kooperation. Kurz, die Eurasische Union ist dabei zu einem neuen Faktor der internationalen Politik zu werden. Das gilt auch dann, wenn interne Kritiken um gleiche Rechte miteinander ausgetragen werden müssen. Das sind, wie aus der Geschichte der EU mehr als reichlich bekannt, Wachstumskrankheiten.
Inzwischen unterzeichneten nicht nur Russland, Kasachstan und Weißrußland, sondern auch Tadschiskistan, Armenien, Moldawien und auch die Ukraine ein Abkommen für die Bildung einer eurasischen Freihandelszone. Das sind im Falle der zuletzt Genannten noch keine Verträge, sondern Absichtserklärungen, aber deutlich genug treten an dieser Tatsache die Überschneidungen zwischen den Einflußzonen  der West- und der Ost-Union ins politische Licht.

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Hier angekommen wird deutlich, dass Putins Geschenk an die Ukraine deren finanzielles Problem zwar kurzfristig beseitigt; grundsätzlich und langfristig können finanzielle Transaktionen die Lage der Ukraine als Grenzland (u kraine – wörtlich: an der Grenze), als Puffer, als Raum, der von beiden Seiten als Einflußgebiet verstanden wird, jedoch nicht lösen – solange West-EU und Ost-EU, westliche und östliche Freihandelszone sich als Konkurrenten begegnen, die sich gegenseitig mit den besseren Kapitalisierungsstrategien ausstechen wollen, zumal die Vorgänge in der Ukraine nur der schärfste Ausdruck der Probleme im gesamten Integrationsraum zwischen EU und EU sind. Eine Lagerbildung, kann diese Probleme nur verschärfen; die Ukraine muß selbst entscheiden können, darin ist den neuesten Ausführungen der deutschen Kanzlerin zuzustimmen – mit dem kleinen Zusatz allerdings, daß Worten wie diesen die Taten nicht diametral widersprechen dürften, wie es bei der Kanzlerin ist, die sich nicht scheut, durch offene Intervention zugunsten einer nationalistischen Opposition auf den Umsturz der gewählten ukrainischen Regierung hinzuarbeiten. Mit der Forderung nach einer selbstbestimmten Politik, das ist klar, betreten wir den Raum einer anderen als einer bloß taktischen oder gar nur verbalen Wende. Es ist der Raum, in dem kooperative Solidarität anstelle von imperialer Blockbildung als Grundkonsens persönlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens gilt. Davon ist die heutige Politik der EU weit entfernt. Weit entfernt davon, Vertreter einer solchen Perspektive zu sein, sind auch die Moskauer Vertragspartner Putin und Janukowytsch. Aber eines tritt an dem Moskauer Coup der beiden Präsidenten immerhin deutlich hervor – und dies ungeachtet aller finanziellen wie auch sonstigen sachlichen Details: Die Möglichkeit der Politik Priorität vor der Ökonomie zu geben. Darin könnte eine Botschaft liegen.

Kai Ehlers ist Schriftsteller und Publizist mit dem Schwerpunkt auf Osteuropa und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Er lebt in Hamburg. Sein aktuelles Buch „Die Kraft der Überflüssigen“ erschien 2013 im Pahl-Rugenstein-Verlag Bonn (271 Seiten, 19,90 Euro). Näheres siehe: www.kai-ehlers.de