von Margit van Ham
Es bleibt oft so ein Rest Nichtverstehen, wenn man auf das Leben von Außenseitern unserer Gesellschaft blickt. Es entspricht weder dem Klischee von Leuten in der „Hängematte“ noch dem des einfach nie eine Chance bekommenden Menschen. Das Leben ist komplizierter. Mario Kaiser hat zwei solche Menschen, Dursun Ince und Andreas Läufer, über lange Monate hinweg begleitet – in dem Versuch zu verstehen. Er ist ein Journalist mit langem Atem, einer der genau hinsieht. Seine Geschichten berühren bei aller Sachlichkeit, vermitteln eine Ahnung von dem, was Menschen treibt, was sie – in den Augen der meisten – scheitern lässt. Am 20. Oktober wurde Mario Kaiser für die Texte „Der lange Abschied“ und „Herrn Inces Lohn“ der Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik verliehen.
In seiner Dankesrede sagt Kaiser: „Andreas Läufer, den ich bei seinem langen Abschied aus dem Sozialstaat begleitete, hat es sich nie leicht gemacht mit sich und seinem Land. Er hat es auch mir nicht leicht gemacht, über ihn zu schreiben. Aber er hatte, wie Tucholsky, eine Haltung und einen wunderbaren Berliner Humor.“
Andreas Läufer, arbeitslos, aber jemand, der jede Arbeit annimmt, hatte eigentlich Glück. Er traf auf einen Arbeitsvermittler, der zuhörte und helfen wollte, der – wissend um Vorschriften und die Bedeutung von Zertifikaten – Schritt für Schritt den Traum Läufers von einer Fahrradwerkstatt vorbereiten wollte. Läufer erkennt das nicht, schreibt Mario Kaiser. Ihm gehen die Dinge zu langsam. Er ist 49. Er will nicht erst eine Umschulung. „Es verletzt Läufer, dass er gemessen mit den Schablonen der Bürokratie, die Norm nicht erfüllt. Im Mittelpunkt seiner Geschichte sieht er einen Mann mit Talenten, einem Plan und nicht zu brechendem Arbeitswillen, und er will nicht glauben, dass es im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten keine Abkürzung für ihn gibt. Es ist ein erstes Anzeichen, dass er Schwierigkeiten hat, sich mit der Systematik des Staates zu arrangieren. Vielleicht unterschätzt er, wie komplex Geschichten sind, in denen der Staat eine Rolle spielt. Und vielleicht unterschätzt der Staat, wie komplex Läufers Geschichte ist, wenn man sie aufblättert. In gewisser Weise sind sie sich ähnlich, er und der Staat. Sie heften beide gern Papier ab und berufen sich gern auf das Recht. Sie folgen beide einem eigenwilligen, manchmal schmerzhaft detaillierten Regelwerk, und in der Auslegung sind beide sehr streng. Vielleicht sind sie zu deutsch füreinander.“
Als der Staat ihn verdächtigt, nicht alle Jobs angegeben zu haben – Läufer kann das widerlegen – wird er an einem empfindlichen Punkt getroffen. Er sieht sich auf eine Stufe gestellt mit anderen Hartz IV-Empfängern, die er mit dem „Westerwelle-Sarrazin-Mißfelder-Blick“ sieht. Er rennt von Tagesjob zu Tagesjob, braucht das Geld für die Zeit nach dem Loslassen vom Staat. „Als er loslässt, fühlt Läufer sich wie ein Faktor in einer Kosten-Nutzen-Rechnung, betrachtet durch das dunkle Glas der Marktwirtschaft, und er reagiert kühl marktwirtschaftlich. Er privatisiert sein Leben.“
Dursun Ince lebt ebenfalls in einer anderen Welt, in der der Tagelöhner. Kaiser schreibt: „Die Hoffnung gebraucht zu werden, lässt Männer wie ihn in der Nacht durch die Stadt reisen, nicht wissend, was sie im Raum der Entscheidung erwartet. Ein Verlangen treibt diese Männer, sie wollen dazugehören, wenn die anderen aufwachen und ihre Plätze einnehmen in der Arbeitswelt. Sie suchen die Lücken in dieser Welt, sie wollen sie füllen, für einen Tag, ein paar Stunden, ein paar Scheine.“ Und an anderer Stelle: „Das Loch in seinem Leben ist die Unterversorgung mit Arbeit, das Fehlen einer Aufgabe. Er bricht, wie die meisten Tagelöhner, das Klischee vom Hartz IV-Empfänger. Er wartet nicht auf Arbeit, er folgt ihr. Aber nur bis zu einem bestimmten Punkt, dann lässt er los. Das ist das Tagelöhnersyndrom. Sie sind bindungsunfähig. Sie wollen dazugehören, aber sie versuchen nicht, den Bruch zwischen sich und der Arbeitswelt zu reparieren. Sie spezialisieren sich auf die Lücke.“ Inces Name klingt nach Migrationshintergrund, doch er ist nur eine türkische Chiffre für eine deutsche Geschichte, analysiert Kaiser.
Zwei Geschichten aus Brennpunkten des Heute, die nicht allzu häufig thematisiert werden. Eben weil es komplizierte Fragen sind, die keine einfachen Antworten gestatten. Kaiser macht deutlich, dass zur Realität auch der Fakt gehört, dass in der deutschen Bürokratie nicht wenige Menschen arbeiten, die im besten Sinne Staatsdiener sind. Die Jury der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft hat eine gute Wahl getroffen.
Der Autor orientiert sich auch in einer Dankesrede am kritischen Tucholsky. Er geht auf Russland ein; sein Haus der Kultur und Wissenschaften in Berlin ist Ort der Preisverleihung. Die Kultur Russlands ist groß und reich, sagt er, wir lieben Dostojewski, Tolstoi, Puschkin und Tschechow. „Und darum sorgt es mich als einen, der schreibt, dass es eine schwere Zeit ist in Russland für die, die anders denken und schreiben.“ Er verweist auf Tucholsky: „Wir wurden ein weniger kluges Land, als er uns verließ. Ein kleineres Land. Ich wünsche mir, dass Russland ein großes Land bleibt.“
Klare Worte zu Deutschland: Ich schätze es nicht, in einem Land zu leben, in dem der Verfassungsschutz glaubt, unsere Verfassung zu schützen, indem er Journalisten ausspioniert, […] in dem Verleger das Verlegen verlernen und den Journalismus kaputtsparen, […] in dem Leser das Lesen vernachlässigen und vergessen, dass guter Journalismus einen Wert hat und einen Preis.
Tucholsky zahlte diesen Preis, er legte sich an. Auf seine Art sei er ein Staatsdiener gewesen, sagt Kaiser: Er diente einem aufgeklärten Staat. Mario Kaiser berichtet dann von einer Zeremonie in Tel Aviv, bei der Juden deutscher Abstammung feierlich die Staatsbürgerschaft zurückerhalten, die ihnen die Nazis nahmen. Er sah eine Familie in besten Kleidern, wie sie die Dokumente in den Händen hielten – und wie ihre Gesichter leuchteten. Er schlägt vor, dass wir Tucholsky, der in Schweden begraben ist und dort auch weiter ruhen soll, die Staatsbürgerschaft zurückbringen. „Und wir sollten das feiern in unseren besten Kleidern. Wir sollten ihn nach Hause holen, wenigstens auf diese Weise.“
Informationen über die Kurt-Tucholsky-Gesellschaft unter www.tucholsky-gesellschaft.de
sowie Mario Kaiser unter www.mariokaiser.de
Schlagwörter: Andreas Läufer, Dursun Ince, Kurt Tucholsky, Margit van Ham, Mario Kaiser, Staatsbürgerschaft