16. Jahrgang | Nummer 22 | 28. Oktober 2013

Sprüche der Väter

von Jürgen Rennert

Die folgende Rede wurde zur Eröffnung der Magdeburger „Tage der jüdischen Kultur und Geschichte“ am 6. Oktober 2013  gehalten.

Von Rabbi Hillel, einem Zeit- und Glaubensgenossen des Jesus von Nazareth, sind in den Pirkej Awot, den „Sprüchen der Väter“, drei bloß augenscheinlich rhetorisch anmutende Fragen überliefert. Die diversen Veranstaltungen der nunmehr sechsten Magdeburger „Tage der jüdischen Kultur und Geschichte“ können und wollen auch dazu anregen, eigene Antworten auf Hillel zu suchen und zu finden.
Die Fragen lauten: „Wenn ich nicht für mich bin, wer ist dann für mich?
Solange ich aber nur für mich bin, was bin ich dann?
Und wenn nicht jetzt, wann sonst?“

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Ungeachtet aller Auslöschungsversuche bezieht – baruch haSchem! – die auch hierorts wieder körperlich und geistig präsente Welt des Judentums ihre Stärke und ihre Faszination aus einer beispiellos praktizierten Treue zur wortwörtlichen Überlieferung, zu den punktgenau erinnerten Protokollen aller vergangenen und gegenwärtigen Zwiegespräche zwischen dem Allmächtigen und den zahllosen Mediatoren einer von ihm direkt und exemplarisch angesprochenen menschlichen Gemeinschaft. Zurechtweisung und Klage, Jubel und Protest, Glaube und Zweifel, Furioso und Lamento, Bekenntnis und rebellierendes Verneinen klingen in den Tehillim, dem als Psalter annektierten Liedgut des Judentums, zusammen.
Erst in der ungeschmälerten Weitergabe des Überlieferten an die Nachgeborenen eröffnet sich ihnen die wirkliche Freiheit der Wahl, die darin besteht, die tradierten Anschauungen anzunehmen und zu leben oder sie – wesentlich von ihnen geprägt – zu verwerfen.

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Am 30. September vollendete Eli Wiesel wenig bemerkt sein 85. Lebensjahr. Der im rumänischen Sighet geborene und seit 1956 in den USA lebende Journalist und Schriftsteller wurde 1944 mit seiner Familie inhaftiert und nach Auschwitz verschleppt. Die Mutter und die Schwestern wurden dort umgebracht. Der Vater, mit dem er im Januar 1945 ins KZ Buchenwald weiter transportiert wurde, starb dort nach wenigen Tagen und erlebte die Befreiung im April nicht mehr. In einem seiner unverzichtbaren Bücher findet sich folgende Passage:
„Während des Krieges, im Lager, arbeitete ich einmal in einem Kommando zusammen mit einem Mann, der vor dem Krieg der Leiter einer jüdischen Schule, einer Jeschiwa, war. Eines Abends sagte er zu mir: Komm heute Nacht zu meiner Pritsche. Ich ging hin. Heute weiß ich, warum er es tat: Weil ich der Jüngste war, muss er gedacht haben, dass ich, weil ich jünger war, eine größere Chance haben würde, zu überleben und die Geschichte zu berichten.
Und was er dann tat, war, ein rabbinisches Tribunal einzuberufen und Gott anzuklagen. Er hatte zwei andere gelehrte Rabbiner hinzugezogen, und sie beschlossen, über Gott zu befinden, in angemessener, korrekter Form, wie es ein richtiges, rabbinisches Tribunal tun soll, mit Zeugen und Argumenten usw.
Was sie taten, war vollständig in Übereinstimmung mit dem jüdischen Gesetz und mit der jüdischen Tradition. Ich weiß, dass es für Christen schwierig ist, das zu verstehen, und noch schwieriger, es zu akzeptieren, dass wir Menschen Gott anklagen können. Juden können es, Juden haben es stets getan: Abraham hat es getan, Moses und Hiob haben es getan. Der Talmud ist voll von Rabbinern, die gegen Gott protestiert haben. Und in der chassidischen Literatur hat Rabbi Levi-Jizchak von Berditschew ständig Gott angeklagt. Wir dürfen Nein sagen zu Gott. Vorausgesetzt, es geschieht für andere Menschen, um des Menschen willen.
[…] Und so beschlossen die drei Rabbiner in diesem Lager, einen Prozess zu veranstalten. Die Verhandlungen des Tribunals zogen sich lange hin. Und schließlich verkündete mein Lehrer, der Vorsitzender des Tribunals gewesen war, das Urteil: Schuldig. – Und dann herrschte Schweigen – ein Schweigen, das mich an das Schweigen am Sinai erinnerte, ein endloses, ewiges Schweigen. Aber schließlich sagte mein Lehrer, der Rabbi: Und nun, meine Freunde, lasst uns gehen und beten. Und wir beteten zu Gott, der gerade wenige Minuten vorher von seinen Kindern für schuldig erklärt worden war.“

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In der mittlerweile wieder vorherrschenden Diskreditierung und Diskrimierung des dialektischen Denkens und Empfindens, häufig genug als typisch jüdisch apostrophiert und abgetan, erblicke ich einen der Gründe für das Wieder-Erstarken nationalistischer und rassistischer Bestrebungen, die im heutigen Europa um sich greifen. Ungarn, dessen Anteil zum Fall der Mauer unvergessen bleiben soll, knüpft sich gegenwärtig mit diskriminierenden Gesetzen und Verordnungen – Roma, Sinti, Juden und Obdachlose betreffend – ins Geflecht der einst vornehmlich von Deutschland her bekannten blind machenden Anschauungen ein. Einmal mehr erinnere und begreife ich den Wahrheitsgehalt jenes prophetischen albtraumhaften Resümees, das Grete Weil 1983 in ihrem Buch „Generationen“ in den Satz fasste: „Je weiter Auschwitz entfernt ist, desto näher kommt es.“ Und Kurt Tucholsky, der sich bis zu seinem Ende im schwedischen Exil dagegen verwahrte, in seiner leiblichen und geistigen Existenz auf den Hauptnenner des Jüdischen gebracht zu werden, schrieb 1932 unter der Rubrik „Worauf man in Europa stolz ist“: „Ein jüdischer Mann sagte einmal: „Ich bin stolz darauf, Jude zu sein. Wenn ich nicht stolz bin, bin ich auch Jude – da bin ich schon lieber gleich stolz!“

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Zurück zu Hillel, der fragt: „Wenn ich nicht für mich bin, wer ist dann für mich?“. Mit wechselnder Betonung wechselt die für sich genommene Frage auch ihre Richtung. Denn die aufs „ich“ und aufs „dann“ gesetzten Akzente katapultieren sie geradewegs in den Katalog jener Parteigänger, die auf den Ausschluss anderer bedacht sind: „Wenn ich nicht für mich bin, wer ist dann für mich?“
Diesem Verstehen läuft die verstärkte Betonung des ersten „für“ und des zweiten „mich“ gründlich zuwider. Indem es daran erinnert, dass niemand unter uns allein von sich lebt. Und ins Bewusstsein ruft, dass erst die Bejahung und Befürwortung der eigenen Existenz zur friedlichen Koexistenz mit allen anderen befreit und befähigt: „Wenn ich nicht für mich bin, wer ist dann für mich?“
An der Dringlichkeit der nachfolgenden Frage vermag kein Betonungswechsel etwas zu deuteln: „Solange ich aber nur für mich bin, was bin ich dann?“. Das zielt auf mich und auf dich. Und setzt uns als gesellige und gesellschaftsfähige Wesen voraus. Hinter allen Antworten, die aufs gesellschaftliche „Was-bin-ich“-Spiel nur mit „Ich bin ich – und nur für mich“ aufwarten, lauert das Nichts.

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Mit Magdeburg, seinem Dom und dem Stadtteil Rothensee verbinden mich seit längerem etliche Bemühungen. Eine von ihnen ist im absichtsvoll rostenden Textband des von Johann Peter Hinz 2001 realisierten Gedenkzeichens an das KZ-Außenlager MAGDA nachzulesen. Auf dem heißt es einleitend: „Was wir sahen, haben wir nicht gesehen. Was wir hörten, haben wir nicht gehört. Unsere Hände, in Unschuld gewaschen, werden nicht rein.“
Ein weiterer Text, der für die Renovation des ParadiesPortals in Sachen „Ecclesia-und-Synagoge“ am Magdeburger Dom von mir erbeten und erarbeitet wurde, fand keine Gnade. Er wurde abgelehnt und blieb im Dunkel. Und bliebe es wohl für immer, wenn Ihre freundliche Einladung mir nicht die Chance gäbe, Ihnen die sechs Zeilen des verworfenen Textes vorzutragen:

Ecclesia und Synagoge

Sehenden Auges blind
Für die eigne Verblendung,
Das Hinrichtende im Verordnen
Der Augenbinde: Iesus „Israel“
Nazarenus Rex iudaeorum
Via Oświęcim… Kyrie eleison!

Über das nachhaltige Wirken von Ludwig Philippsohn (1811-1889), der 1833 ins Amt des Rabbiners der jüdischen Gemeinde zu Magdeburg berufen wurde und der darüber hinaus als Gründer und Herausgeber der Allgemeine Zeitung des Judentums (AZJ), des Jüdischen Volksblattes und des „Instituts zur Förderung der Israelitischen Literatur“ ins Weite und Breite wirkte, muss hier nicht viel vermerkt werden. Denn seit 2004 gibt es in Magdeburg das „Jüdische Soziokulturelle Zentrum ‚Ludwig Philippsohn’“ als eingetragenen Verein. Allein von jüdischen Zuwanderern gegründet, hat sich das Zentrum zum Ziel gesetzt „im Sinne der jüdischen Traditionen zur Verständigung zwischen Menschen unterschiedlicher Nationalitäten und unterschiedlicher Konfessionen“ beizutragen. Dass dieses Zentrum auch diese Tage mit trägt und durch seine Veranstaltungen bereichert, erfüllt mich mit besonderer Dankbarkeit.
Philippsohns Nachfolger im Amte des Rabbiners wurde 1862 Moritz Güdemann (1835-1918). Gegen Ende seiner Amtszeit 1866 verfasste er den Abriss einer „Geschichte der Juden in Magdeburg“, größtenteils gestützt auf Urkunden des Magdeburger Königlichen Provinzial-Archivs. Nachzulesen in Zacharias Frankels Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums. Mit Frankel vertrat Güdemann die jüdische Orthodoxie, in größtem Gegensatz zu Philippsohn. Als ich Güdemanns verdienstvollen Abriss zur Geschichte der Magdeburger Juden zum ersten Mal las, erschrak ich über die Analogie zwischen seinen 1865 zutreffenden Ausführungen und den nahezu heillosen Wahrnehmungen acht Jahrzehnte später:
„Es mag überraschen, von einer ‚Geschichte der Juden in Magdeburg’ reden zu wollen. Erwartet man doch eine Geschichte nur von einer ‚alten’ Gemeinde, und als eine solche dürfte freilich die Magdeburgische selbst demjenigen nicht erscheinen, der in der allgemeinen Geschichte der Juden nicht ganz unbewandert ist. In der Tat zählt die Gemeinde, wie sie augenblicklich besteht, kaum ein halbes Jahrhundert. Da ist nichts, was in dem Reisenden, der auf den Gassen sich umschaut, den Gedanken erwecken könnte, dass einst Juden hier auf ihrer Pilgerfahrt eine Ruhestätte gefunden hätten […] Und doch gab es hier einst alles das, was anderen Gemeinden einen klangvollen Namen gemacht und einen Ehrenplatz in der Geschichte verschafft hat: Es gab hier Gelehrte, es gab hier Märtyrer, es saß hier eine Gemeinde, deren Alter an das der ältesten in Deutschland heranreicht; ja zu der Zeit schon, wo in Persien noch Exilarchat und Gaonat den Juden eine gewisse Selbständigkeit bewahrten, waren hier, im rauen Norden, an den Ufern der Elbe, Juden angesiedelt.“

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„Wenn nicht jetzt“, fragt Hille, „wann sonst?“ Und eine interpretierende Lesart fügt vielfach noch hinzu: „Wer, wenn nicht Du?“
Theodor Herzl muss so empfunden haben, als er unter dem deprimierenden Erlebnis des ersten Dreifus-Prozesses 1884 die schmale Schrift „Der Judenstaat“ verfasste. Völlig frei von nationalistischen Ressentiments und Anwandlungen, heißt es in ihr unter anderem: „Wir haben überall ehrlich versucht, in der uns umgebenden Volksgemeinschaft aufzugehen und nur den Glauben unserer Väter zu bewahren. Man lässt es nicht zu. Vergebens sind wir treue und an manchen Orten überschwängliche Patrioten, vergebens bringen wir dieselben Opfer an Gut und Blut wie unsere Mitbürger, vergebens bemühen wir uns, den Ruhm unserer Vaterländer in Künsten und Wissenschaften, ihren Reichtum durch Handel und Verkehr zu erhöhen. In unseren Vaterländern, in denen wir ja auch schon seit Jahrhunderten wohnen, werden wir als Fremdlinge ausgeschrien – oft von solchen, deren Geschlechter noch nicht im Lande waren, als unsere Väter da schon seufzten. Wer der Fremde im Lande ist, das kann die Mehrheit entscheiden; es ist eine Machtfrage, wie alles im Völkerverkehr. Ich gebe nichts von unserem ersessenen guten Recht preis, wenn ich das als ohnehin mandatloser Einzelner sage. Im jetzigen Zustande der Welt und wohl noch in unabsehberer Zeit geht Macht vor Recht. Wir sind also vergebens überall brave Patrioten, wie es die Hugenotten waren, die man zu wandern zwang. Wenn man uns in Ruhe ließe… Aber ich glaube, man wird uns nicht in Ruhe lassen.“

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Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Und wünsche den Veranstaltungen dieser außerordentlich inhaltsreichen Tage großen und lebhaften Zuspruch. Zu guter Letzt gebe ich Ihnen ein Gedicht von Rose Ausländer als Proviant mit auf den Weg:

„Ich habe keinen Respekt
vor dem Wort Gott

Habe großen Respekt
vor dem Wort
das mich erschuf
damit ich Gott helfe
die Welt zu erschaffen“