16. Jahrgang | Nummer 20 | 30. September 2013

Querbeet (XXXI)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: diesmal Nachtwandeln in Apulien, Berliner Gedenken, Zarenhorror

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Anflug Bari, Apulien, der immerhin gut heraus geputzte Hacken vom Stiefel Italiens. Tief unten die sich kräuselnde Adria, dann endlose Olivenwälder, Weinfelder, der Turm der herrlichen Basilika des berühmten Heiligen Nikolaus… Nach Intervention von Martin Luther beschert fortan das liebe Christkind die Weihnachtsgaben – und nicht mehr der Nikolaus. Der darf uns dafür zuvor die Schuhe vollstopfen mit Pfefferkuchen.
Auf dem Boulevard Garibaldi das nach einem Brand seit fünf Jahren wieder fein in Gold und Rot hergerichtete Teatro Petruzelli. Saisoneröffnung mit Bellinis Belcanto-Scherz „La Sonnambula“. Enorm breiter Orchestergraben, die bemerkenswert zahlreichen Damen Musikerinnen schulterfrei im langen Schwarzen und in hohen Hacken; super schick. Unaufdringlich wehende Eleganz auch im Publikum. Der Riesensaal mit einer Decke aus mächtigen Palmzweigen (Stuck) nicht ganz gefüllt. In der bemerkenswert kurzen Pause Aperol-Spritz nebst Schnittchen für 19,50 Euro. Massenhaft Aufsichtspersonal in den Foyers, das sich dann in die Vorstellung schleicht. Sogar die mopsigen Putzfrauen von den Toiletten in grünen Kitteln mit gelben Gummihandschuhen haben ihre Kabinette verlassen und lauschen heimlich auf der ansonsten leeren Seitengalerie. Zauberhaft! Bellinis komödisches und zugleich zart wehmütiges Spielchen um eine Traumwandlerin, die nach einer gewissen Verschlafenheit doch noch den Mann ihrer Liebe findet, ist mit leichter Hand und hübschen Video-Clips im ironisch surrealen Bühnenbild inszeniert. Musikalisch alles vom Allerfeinsten; eine Delikatesse. Das reine Entzücken!

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Die Firmen Kulturprojekte Berlin und Deutsches Historisches Museum (DHM) haben aus gegebenem Anlass (1933-2013) ein „Themenjahr“ ausgerufen: „Zerstörte Vielfalt“. Und so wurden an historisch bedeutsamen Orten Berlins auf Dutzenden Säulen die Biografien von mehr als 200 Menschen darstellt. Es sind Berliner, die aus Deutschland vertrieben und später zumeist ermordet wurden; darunter viele Berühmtheiten, überwiegend aus dem Kultur-, Kunst- und Wissenschaftsbetrieb. Ergänzt wird die Freiluftschau durch eine Ausstellung im Pei-Bau des DHM; sozusagen die facettenreiche Hintergrund-Illustration für die Stichwort-Bildinformationen auf den Säulen unter freiem Himmel. So wird noch einmal das üppig blühende geistige und gesellschaftliche Leben in der Reichshauptstadt vor 1933 beschworen zusammen mit den Dokumenten über die rigorose Zerstörung dieses einzigartigen und weltberühmten urbanen Biotops mit Antritt der NS-Regierung. Wobei unmissverständlich klar wird, dass der staatlich verordnete Terror gegen nicht nur politisch Andersdenkende sowie die systematische Verfolgung der Juden von der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit hingenommen, teils auch für gut und richtig befunden wurde.

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Hinweis: Vor ein paar Jahren erschien im Verlag Beltz, Wiesbaden, die erschütternde Monografie „Verehrt, verfolgt, vergessen“ von Ulrich Liebe. Die Namen jener Schauspieler und Entertainer, die, zunächst vom Volk gefeiert, dann unter den Nazis in Ungnade fielen und später unter reger Anteilnahme beträchtlicher Teile der Bevölkerung verfolgt und schließlich ermordet wurden, diese Namen strich man seinerzeit sofort aus den Archiven; die Filme kamen auf den Index. Nicht einmal Todesanzeigen durften erscheinen. Umso wichtiger bleibt das Buch des Theaterhistorikers Ulrich Liebe, das sieben Schicksale erst berühmter und enorm beliebter, dann verdammter und letztlich „verschwundener“ Stars dokumentiert.
Neben den ausführlich geschilderten Lebensläufen von Robert Dorsay, Kurt Gerron, Joachim Gottschalk, Fritz Grünbaum, Paul Morgan, Hans Otto und Otto Walburg steht ein Kompendium mit 40 Kurzbiografien weiterer NS-Opfer aus dem Bereich der darstellenden Künste. Den obendrein reich bebilderten Band (278 Seiten, 29 Euro) ergänzt eine CD mit gesprochenen und gesungenen O-Tönen von Dorsay, Grünbaum, Morgan, Walburg und Kurt Gerron.

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Marseille, Januar 1943. Zweitausend französische Polizisten, unterstützt von Wehrmacht und Waffen-SS, durchkämmen das Hafenviertel, treiben die dort auf ein Ausreisevisum verzweifelt wartenden jüdischen Emigranten zusammen. Zum Abtransport in die Todeslager. Unter ihnen ist Theodor Wolff, von 1905 bis 1933 Chefredakteur des berühmten links-bürgerlichen Berliner Tageblatt“. Der „Obermoses der deutschen Demokratie“ (so Goebbels) schrieb bis zuletzt gegen die Nazis, konnte ihnen in letzter Minute entwischen um ihnen dann in Marseille in die Hände zu fallen.
Unter seinen Jägern befand sich ein Kollege aus Tageblatt-Zeiten, der Journalist Walther Kiaulehn, nunmehr Mitglied einer der vielen Propagandakompanien in Uniform, die unter Anleitung des Propagandaministers „als Zeugen der größten Zeit unseres Volkes“ das Heldentum deutscher Soldaten zu rühmen hatten, was sie denn auch begeistert taten. Beispielsweise in der von der Wehrmacht in 25 Sprachen herausgegebenen Auslandsillustrierten Signal (Auflage 2,5 Millionen). Dort pries Kiaulehn, nach 1945 einer der bekanntesten westdeutschen Feuilletonisten und Bestsellerautor, die „historische Aktion Marseille 1943“ als „Hygiene“ – die „Kloake wurde trocken gelegt“. Und Theodor Wolff, schwerst krank, wurde nach Berlin verfrachtet. Als Geisel für einen etwaigen Gefangenenaustausch. Bald darauf, am 23. September 1943 – also vor genau 70 Jahren, verstarb er in Berlins Jüdischem Krankenhaus. Der heute wichtigste deutsche Journalistenpreis, alljährlich in verschiedenen Kategorien vergeben, trägt seinen Namen.

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Das Berliner Deutsche Theater stellt, erpicht auf Aktualität, seine neue, die nunmehr 163. Saison, unter das große Motto „Demokratie und Krieg“. Und gleich am Anfang stellte sich heraus: Das Motto war viel zu groß für dieses immerhin nicht gerade kleine Hauptstadt-Haus.

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Es begann mit einer durchaus intelligenten Fingerübung des Jungdramatikers Mario Salazar als Uraufführung: „Hieron. Vollkommene Welt“ ist eine grauenvolle, gleichwohl mit Klischees arg überladene Gegen-Utopie; handelnd von einem fiktiv totalitären Staat des Grauens, in dem jegliche Menschlichkeit ausradiert ist und perfekte Produktivität und Unterordnung unter Hierons Herrschaft der Maßstab für alles ist. Wer da nicht mithält, wird blutig entsorgt.
Nach der Pause Schillers Dramenfragment „Demetrius“, handelnd vom Aufstieg und Fall des falschen, von der Politik als Werkzeug missbrauchten Zarensohnes Demetrius. Beide Texte zusammen gespannt inszenierte Stephan Kimmig fantasielos als einfältiges Rumsteh- und Aufsagetheater, garniert mit Video und Blutgespritze. Die gewollte Belichtung epochenübergreifender Gewaltherrschaft blieb im Diffusen.

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Dem folgte das Projekt „Agonie“ von Jürgen Kuttner und Tom Kühnel. Ein „zaristisches Lehrstück“ über den dekadenten Stillstand des Petersburger Brutalo-Regimes unter Nikolaus II. sollte es sein. Was herauskam unter Kuttner-Kühnels Regie war ein bloß grotesk-spaßiger historischer Bilderbogen über die letzten Tage der Romanows zwischen 1904 und 1917. Also nichts von vehement angekündigter Welterklärung. Keine Spur von anspielungsreich erhellendem, tragischem Subtext.

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Warum also das ganze Theater? Für eine süffige Zaren-Soap, ein illustres Kostümfest? Da machen auch die aus dem Off beliebig eingespielten Brechtschen Agitprop-Songs mit Ernst Busch (aus „Die Mutter“) den Kohl nicht fett. Die Brecht-Erben haben die Albernheit inzwischen untersagt. Dabei wäre das womöglich ein Ansatz gewesen für die Auseinandersetzung mit der besungenen „proletarischen“, also zunächst vernünftig erscheinenden kommunistischen Leninschen Revolution als Antwort auf das dekadent-unmenschliche Zaren-Regime.

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Da will nun das Deutsche Theater erklärtermaßen immer politisch höchst hinaus (Spielzeitmotto!). Und entpuppt sich wieder einmal hemmungslos (die Dramaturgie im Tiefschlaf?) als gereckt flachbrüstig. Man kommt aus dem entsetzten Staunen nicht heraus – hoffentlich nur bis zum nächsten Querbeet.