16. Jahrgang | Nummer 19 | 16. September 2013

Beschreibung eines Untergangs

von Brigitte Zimmermann

Für die Beschreibung eines Untergangs ist Christel Bergers zweibändiges Buch über die Akademie der Künste der DDR und darin speziell die Sektion Dichtung und Sprachpflege eine recht unterhaltsame Sache. Das überrascht doppelt, denn es geht zudem um ein Thema, das auch heute brandaktuell sein müsste, es aber nicht ist. Mit welchen Beiträgen können Kunst und Künstler in die Gesellschaft hineinwirken und nicht nur zu ihrer Gedanklichkeit, sondern auch zur Stilbildung in des Wortes weitestem Sinne beitragen? Unter dem Verkäuflichkeitsdiktat dieser Tage spürt man von solchem gesammelten Anspruch so gut wie nichts.
Der Akademie der Künste der DDR war hingegen im Gründungsdokument von 1949 aufgetragen, die Regierung, von der sie finanziell durchaus gut unterhalten wurde, zu beraten und mit Vorschlägen zu bestücken. Das ist mal mehr und mal weniger gelungen, am Ende, besonders in den letzten zehn Jahren, lief sehr viel ins Leere. Von Feuerwehreinsätzen zur Abmilderung kurzatmiger politischer Entscheidungen – Biermann-Ausweisung, Film-Verbote, Druckverweigerung für Bücher – einmal abgesehen. Stephan Hermlins Initiative zur Berliner Begegnung, die raketengestützter Konfrontation bewusst das Künstlergespräch über Blockgrenzen hinweg entgegengesetzt hatte, war 1983 die letzte auffällige und die breitere Öffentlichkeit beschäftigende Aktion auf dem Konto der Akademie.
Christel Berger, seit 1982 Mitarbeiterin mit Zuständigkeit für die Sektion Dichtung und Sprachpflege, belegt anhand ihrer Erfahrungen und mit akribisch zusammengetragenen und autorisierten Dokumenten, warum die Regierung sich mit den Jahren immer beratungsresistenter erwies. Auch ihr war wächterratsmäßig der hauptamtliche Apparat des Zentralkomitees der SED vorgeschaltet. Dort wurden Kunst, Künstler und Kunstwerke rein ideologisch bewertet, was andere Maßgaben der Kunst gewaltig verfehlte und häufig zielstrebig in die Irre führte. Oder mindestens zur nachhaltigen Verärgerung und auch Resignation nicht weniger Akteure.
Die Schilderung des ewigen Hickhacks um thematische Schwerpunkte, Preisvergaben, Zuwahlen von Mitgliedern, Themen von Veranstaltungen und ihre Gäste, auch um Rednerlisten und Druckgenehmigungen offenbart, mit wie wenig Selbstbewusstsein die DDR-Obrigkeit ausgestattet war, obwohl sie sich im Besitz der einzig wahren Gesellschaftslehre wähnte. Alles, was im Politbüro der SED nicht schon für diesen Kreis handlich vorgedacht war, erregte Misstrauen und den untilgbaren Reflex, es von der Öffentlichkeit fern zu halten. Da der Umgang mit den Wissenschaftlern und deren Akademie nicht wesentlich anders war, belegt Christel Bergers Arbeit bestürzend den geistigen Selbstverarmungsprozess, an dem die DDR nicht zuletzt zu Grunde ging. Von der führenden Kraft, der SED, eigenhändig organisiert. Deren Denkgrenzen waren die Grenzen des Denkens. Dachten sie. Die heutigen Verhältnisse sind fraglos durchlässiger, aber die Kanäle werden dicht und machtvoll besetzt von Wirtschaftsverbänden, Großbanken, verbündeten neugierigen politischen Großmächten sowie ihren auch medial omnipräsenten Lobbyisten. Da dringen mehr oder weniger auf sich selbst zurückgeworfene Künstler kaum durch.
Ein Gewinn für die Leser des Buches ist es auch, die hoch angesehenen Kunst-Akademiker in den Mühen des Alltags kennen zu lernen, ihre gegenseitigen Animositäten und Eitelkeiten eingeschlossen. Beispielsweise der in Einsatz und Verweigerung berserkerhafte Franz Fühmann, der sein Tagebuch wissen ließ – Christel Berger durfte es lesen, aber nicht zitieren – dass er alle seine Mitstreiter herzlich verachtete. Oder die oft Kompromissloses formulierende Christa Wolf, die es aber nicht immer so übers Herz bringt. Dazu der kluge, leise und feine Günther Rücker. Und der elegant-scharfzüngige Peter Hacks, ein unberechenbarer Kosmos für sich, der speziell Stephan Hermlin gern zum Anlass seiner Widerreden nahm. Dieser in Akademiefragen höchst arbeitsame Hermlin, und ein Odem von maroden royalen Verhältnissen weht heran, muss hin und wieder zu Erich Honecker traben, den er aus frühen DDR-Zeiten einigermaßen kennt, um eine nach Eingriffen des ZK völlig verklemmte Sache wenigstens wieder in Richtung Kompromiss zu lenken. Interessant auch, dass der immer sehr handfest argumentierende Erik Neutsch den meisten zu rumplig ist und der spätere allseitige Sündenbock Hermann Kant ein geachtetes und hilfreiches Akademiemitglied.
Beinahe anrührend die Porträts, die mittels einfacher Arbeitsbeschreibungen und entsprechender Dokumente von Konrad Wolf und Wolfgang Kohlhaase entstehen. Der Filmregisseur Wolf, bis zu seinem frühen Tod 1982 zehn Jahre Präsident der Einrichtung, verwandelte das Haus von einer mehr repräsentativen in eine Arbeitsakademie. Nicht nur intern, auch nach außen. Die Veranstaltungen dort waren vom Publikum sehr gesucht und schufen wenigstens ein Stück der ansonsten immer wieder verweigerten Öffentlichkeit. Selbst hochsensibler Künstler, hatte es Wolf gewissermaßen im kleinen Finger, dass es die Benennung von Widersprüchen und die Widersprechenden sind, die die Sache voranbringen. Und so kämpft er als Diskutant, als Briefschreiber und Hausbesucher, auch in Fühmanns spartanischer Einsiedelei bei Märkisch-Buchholz, gerade um die Spröden. Fühmann, Wolf und andere.
Kohlhaase besticht mit seinen hochgescheiten, glänzend formulierten Analysen, immer anständig, alle Parteiungen sowie die Vorzüge und Widersprüche ihrer Argumentation abwägend. Man müsste ihn hier seitenweise zitieren, weil vieles auch heute noch zur Debatte steht. Am 23. November 1989 formuliert er auf einer Sektionstagung zum Beispiel ahnungsvoll: „Das mit der Einheit Deutschlands ist ein schlafender Hund. Er wird morgen bellen und übermorgen beißen. Da darf man sich überhaupt nicht beruhigen mit einer europäischen Interessenlage. Diese Interessenlage ist manipulierbar, und die Leute werden sich ihre Zustimmung abkaufen lassen, sie werden ihre Meinung ändern …“ Kohlhaase will, dass alles getan wird, die DDR und ihre Bürger nicht als minderwertigen Teil in die absehbare künftige deutsche Großfamilie einzureihen. Was trotzdem geschah und de jure teilweise noch heute so ist.
Seine Warnungen verhallen übrigens auch in den eigenen Reihen ungehört. Die Akademie nimmt sich 1990 eine unangemessen ausführliche Sommerpause, während man in Westberlin und anderswo schon einen Blick auf die gut sortierten Archive und Sammlungen der Akademie Ost wirft, die auch materiell viel bedeuten. Der mitunter verschlüsselt agierende letzte Präsident Heiner Müller versucht, verspätet, die Rettung über den Vorschlag einer europäischen Akademien-Sozietät, von der keiner so recht weiß, wie sie aussehen soll und die, siehe Kohlhaase, ohne Chance ist. Der als Vereinigung der beiden Berliner Akademien gefeierte Zusammenschluss ist mehr eine Vereinnahmung Ost von West, verbunden mit perfiden Ausgrenzungsversuchen gegenüber einzelnen Ostberliner Mitgliedern, zum Beispiel von Hermann Kant. Der geht aus Gründen der Selbstachtung freiwillig, wie zahlreiche andere auch, aus unterschiedlichen Motiven.
Christa Wolf, ohnehin schon länger Mitglied auch der Westberliner Akademie, ist bei der letzten Tagung der Akademie Ost am 25. September 1991 nicht anwesend, schickt aber einen Brief, den die Schauspielerin Jutta Wachowiak verliest. Darin sieht sie voraus, dass die Widersprüche und Konflikte, in der sich viele DDR-Künstler bewegen und bewähren mussten, bei der allgemeinen Abwicklungs- und Auflösungsmentalität künftig geleugnet oder als unerheblich dargestellt werden würden. Was voll zutreffen sollte.
Tatsächlich legt man die beiden Bände von Christel Berger aus der Hand und fragt sich, wie viel Verlust und Vergeblichkeit heute ist, von denen wir erst viel später erfahren werden. Die gegenwärtige Politik bevorzugt ebenfalls das ganz kleine Karo, die Verantwortlichen dulden nicht einmal, von eigenen so genannten Parteifreunden gestört zu werden, geschweige denn von anderen, geistig anspruchsvolleren Zwischenrufern. Das aber kann die in der DDR mitunter regelrecht zynisch erfolgte Umleitung von Geist und Engagement in die Folgenlosigkeit nicht entschuldigen. Es war anders gedacht und hätte anders sein müssen, da ökonomisch mächtige Interessengruppen dem nicht im Wege standen.

Christel Berger: Als Magd im Dichter-Olymp, Edition Schwarzdruck, 2013, 844 Seiten, 39 Euro (bis 1.12.2013 32 Euro).

Brigitte Zimmermann, bis 1991 Chefredakteurin der Wochenpost, arbeitet als freie Journalistin und schreibt unter anderen für das Neue Deutschland.