16. Jahrgang | Nummer 16 | 5. August 2013

Querbeet (XXVIII)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Heinrich und Götz George im TV-Mix und kaukasischer Datschenkomplex im Diskurs-Fieber.

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Sie war zweite Wahl. Gustaf Gründgens hatte zuerst Pamela Wedekind gefragt; die alte Jugendfreundin, der Schwarm seiner Ex-Gattin Erika Mann. Doch Pamela wollte nicht, gab aber einen Tipp: „Frag mal die Hoppe.“ Er tat es, sie sagte „Ja!“, und fertig war das Traumpaar im Göring-Goebbels Theater-Deutschland. Die Feier im Juni 1936 – im kleinen Kreis – war auf Gut Zeesen bei Berlin und ziemlich kurz. Gleich nach dem Lunch verschwand der Chef des Preußischen Staatstheaters ins Bett zur Ruhe. Abends war Vorstellung am Gendarmenmarkt. Gründgens als Hamlet. Nach der Aufführung ab nach Hause, und ein jeder für sich. Man wohnte weiterhin getrennt. Die Kollegin Angetraute hatte Muße genug, in der Hochzeitsgabe zu schmökern: Gründgens‘ Filmdrehbuch zu Fontanes „Effi Briest“. Knapp drei Jahre später war Premiere. Juste führte Regie, Janni in der Titelrolle. Das Publikum raste. Goebbels nickte gnädig. Er hasste den Göring-Günstling mit seinem „ganzen schwulen Laden“.
„Wir zollten dem Teufel Tribut, ohne ihm unsere Seele zu verkaufen“, rechtfertigte sich Gründgens nach 1945. Die Publizistin Carola Stern (1925-2006) ging in ihrem letzten Buch diesem poetisch geschwollenen Gründgens-Satz ganz nüchtern und faktenreich nach; Titel: „Auf den Wassern des Lebens. Gustaf Gründgens und Marianne Hoppe“ (Kiepenheuer & Witsch). Carola Stern – als Jugendliche selbst glühende Nazisse, dann kurz kommunistisch-euphorisch, dann Flucht in den Westen, später SPD-Anhängerin – kannte als Zeitzeugin nur zu gut „das Dilemma“ der Verstrickten und Belasteten, die in einem verbrecherischen System glanzvoll Karriere machten. „Bei dem Versuch, Menschen in einer Diktatur gerecht zu werden, also weder zu verteidigen, was nicht verteidigt werden darf, noch zu verurteilen, ohne abzuwägen, da steht ein jeder in einem Gestrüpp von Unverständnis, Ratlosigkeit, Empörung, von Zweifel, Unsicherheit, Verständnis.“ Gerade in der Zusammenschau der beiden exemplarischen Künstler-Existenzen (mit bedeutenden Nachkriegs-Karrieren) gelang es der Autorin, mehr Licht als bisher ins besagte „Gestrüpp“ zu bringen. „Man hätte gehen sollen“, gestand die Hoppe nüchtern. Gründgens sprach blumig vom Ringen mit dem Teufel – das Buch leuchtet den Unterschied aus.
Das Sternsche Buch kam mir immerzu in den Sinn jetzt vorm Fernseher mit Joachim Langes Film „George“, einer wie ich finde, problematischen Vermischung von dokumentarischem Material und Spielszenen (der berühmte Sohn Götz spielt den berühmten Vater Heinrich). Die Filmemacher hielten gerade diesen Mischmasch für besonders „objektivierend“. Mich irritierte das nur. Zum tieferen Verständnis des berüchtigten Dilemmas des „NS-Künstlers“ war der Film kein Beitrag. Beflissen wiederholt er das Mantra aller Betroffenen wie Albers, Rühmann, Werner Krauß oder eben Gründgens und George: „Wir wollten nur spielen“; eine Alternative sahen sie natürlich nicht.
Warum das so war und wie die fatale Melange aus Kompromissen, Mitmacherei und klammheimlichem Widerstand immer unheimlicher und auswegloser wurde, da lohnt ein Griff in die Bibliothek: Nach Werner Moses‘ George-Biografie „Ein Mensch aus Erde gemacht“ von 1998. Die ist auf 460 Seiten gespickt mit historischen Dokumenten und gerade dadurch der George-Tragödie dicht auf der Spur. Und die bestand eben nicht im elenden Tod des kränkelnden Stars im Gefängnis der sowjetischen Besatzer, denen er sich durch Flucht beispielsweise nach Schweden hätte entziehen können; wie es auch geplant war für den 13. April ’45 (diverse Kollegen im Machtbereich der US-Besatzer etwa bekamen in Entnazifizierungsverfahren relativ schnell Persilscheine als blasse NS-Mitläufer). Aber George glaubte in schier unglaublicher Naivität, dass ihm keiner was könne, da er unschuldig sei. Seine wahre Tragödie, die bestand im Pakt mit dem Bösen – was ihm nicht schuldhaft bewusst war. Da hätte Lange sehr viel tiefer bohren und breiter graben sollen. Überhaupt: Aufklärerischer wäre eine komplexe, reine George-Doku gewesen. Mit dem Auftreten von Götz höchstens als Zeitzeuge, und nicht als Papas Nachspieler mit Strubbelhaar-Prücke in ausgestopften Kostümen.

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Die Berliner Volksbühne im Bayreuther Festspielhaus! Frank Castorf, Chef des hauptstädtischen Avantgarde-Betriebs und weltberühmter Meister im Zerhauen von Stücken, die er dann wieder zusammensetzt, ergänzt mit Fremdtexten, die zu frappierend neuen Sinnbezügen führen, Castorf also inszenierte auf dem Grünen Hügel Richard Wagners „Ring des Nibelungen“. Für Tickets keine Chance. Und keine Lust auf stressiges Antichambrieren im bis zur Halskrause zugeknöpften Karten- und Pressebüro.
Doch wir Berliner kennen ja seit Jahrzehnten unsern Frank, den, wie er sagt, „ex-linken“ Politnik, der uns trotz all seiner Analysen und Synthesen immerzu auch umarmt als süffisanter Geschichtenerzähler, der das Personal saftiger Dostojewski- oder Tschechow-Stücke in grandios hyper-naturalistischen Großkulissen und raffiniert Video-gestützt aufregend ineinander krachen lässt. Zuletzt beispielsweise in der Tschechow-Novelle „Das Duell“ von 1891, die Castorf an seiner Volksbühne adaptierte – parallel zur frühen Phase der „Ring“-Vorbereitungen in Wagners Festspielhaus.
Die große Frage im „Duell“ ist (ähnlich dem „Ring“): Wie mag das gehen, das ewige Ringen um Gesellschafts- und also Menschen- und also Weltverbesserung: Mit Moral, Religion, Stärke, Schwäche, Waffen, Worten, Auslese des Guten; mit Wissenschaft, Indoktrination oder gar mit Liebe? Darüber nun zerbricht sich eine ziemlich desperate Gesellschaft auf einer Datsche im Kaukasus unentwegt die glühenden Köpfe. Also das große zerfetzende Tschechow-Gequatsche übers Gemenschel (Ehe, Liebe, Lügen, Sex, Geld) sowie übers Menschheitliche (Verantwortung, Gerechtigkeit, Glauben, Wissen). Wobei in den rhetorischen Duellen übers zivilisatorische Fortschreiten in Richtung „bessere Gesellschaft“ schon Tschechow hellsichtig die finstere Zukunft des ideologischen Terrors, der Menschen-Auslese (die Nützlichen), der Lager und Vernichtung (die Unnützen) vorwegnimmt. Was bei Tschechow allerdings noch im verlottert- und versauten Klugscheißerverein passiert, geschieht bei Castorf in der ruinösen Daseinsgosse als gefährliches Gemisch aus heiß rasendem Verzweiflungsirrsinn und eisig dozierten Ausmerzungsfantasien.
Es geschieht aber auch – wie immer bei Castorf – in betörender Schönheit (und Schauspielkunst: Sophie Rois!). – Für das Schöne steht schon das Bühnenbild von Aleksandar Denic. Der Serbe wuchtete, wie auf Fotos zu bewundern, auch in Bayreuth für den „Ring“ aus diametralen Zeiten und Orten montierte Riesenbilder. In der Volksbühne baute Denic postkartenherrlich einen archaisch-modernen Datschenkomplex aus vernagelten Kistenbrettern mit LED-Wand für die Videos von drinnen (immer gezoomt, immer Großaufnahme). Ein geheimnisvoll schillernder Abenteuerspielplatz für ein zwischen Rausch und Ernüchterung wankendes Getriebenen-Kollektiv im – nach (!) Tschechow – wüst blubbernden, gar komischen und zugleich entsetzlich glasklaren Diskurs über Sinn und Wahnsinn von Gedanken und Taten zum Zwecke des Fortschritts, die gelegentlich zu Revolutionen ausarten. Super Thema! Und zumindest bis zur Pause super Theater! Castorf, der (wie Wagner) so unverwüstlich sarkastische Romantiker ganz auf der Höhe seiner Kunst: Überwältigende Stimmungsmalerei mit Musikeinsatz aller Arten in einer kreiselnden Irrsinns-Arena der terroristischen Menschenspiele um Macht und Ideen. Dabei kramt die Regie virtuos im prallen Fundus theatralischer Mittel. Da ist – wie beim „Ring“ auch – alles drin von Klamotte bis Tragödie.
Dennoch: In den gut vier Stunden ging Castorf in der letzten knappen Stunde die Luft aus (der „Ring“ geht 17 Stunden). Doch immerhin: In 180 Minuten gab’s Menschengeschichten voller Wahn und Qual. Ein so hochtouriges wie gallig komisches, tief trauriges Berliner Theaterglück. – Bis zum nächsten Jahr, dann womöglich mit „Ring“-Karten. Und bis in Kürze zum nächsten Querbeet.