16. Jahrgang | Nummer 16 | 5. August 2013

Annäherung an ein „Tinten-Universum“

von Wolfgang Brauer

Es ist ein Wagnis, sich ausgerechnet im Wagner-Jahr 2013 mit Vehemenz dem anderen Bayreuther, nämlich Jean Paul, zuzuwenden. Der wurde vor 250 Jahren in Wunsiedel im Fichtelgebirge geboren und starb 1825 in Bayreuth. Da zog er wegen des vorzüglichen braunen Bieres hin – einer selbst eingestandenen Grundlage seiner übersprudelnden Phantasie – sowie offensichtlich günstiger Lebenshaltungskosten und weil sich diese Stadt quasi als Gravitationsschwerpunkt seines Lebens und Schreibens herausstellte. Das sind allesamt gute Gründe für Bayreuth. Nur die Stadt tut sich immer noch schwer damit, den Dichter als den Solitär zu betrachten, der er in der deutschen Literatur- und Geistesgeschichte tatsächlich ist. In seiner Vorrede zu E.T.A. Hoffmanns Erstling „Fantasiestücke in Callot’s Manier“ (1814/15) spricht Paul davon, dass man bis heute auf einen Mann warte, „der eine echte Oper zugleich dichtet und setzt“. In Bayreuth meint man immer noch, Jean Paul habe damit prophetisch auf das Erscheinen Richard Wagners abgehoben. Er meinte E.T.A. Hoffmann. Der war Komponist und Kapellmeister in Bamberg und hat uns eine bezaubernde „Undine“ hinterlassen.
Beide ehrenwerte Städte liegen in Franken. Und in der fränkischen Universitätsstadt Würzburg ist Helmut Pfotenhauer Seniorprofessor für Germanistik. Pfotenhauer ging das erwähnte Wagnis ein, indem er jüngst eine fünfhundertseitige Jean-Paul-Biographie vorlegte, die es in sich hat. Das prophetische Zitat habe ich bei ihm gefunden. Die praktische Bestätigung findet man auf einem großen Schild an der Bundesautobahn 9, kurz bevor man nach Bayreuth abbiegt. Die „Fantasiestücke“ gehören übrigens zu den Heiligtümern des pünktlich zum Jubiläum wiedereröffneten Jean-Paul-Museums. Untergebracht ist es in der Villa des fürchterlichen Houston Stewart Chamberlain und dessen nicht minder schrecklichen Ehefrau Eva, einer Wagner-Tochter. Wagners Villa „Wahnfried“ schräg gegenüber ist noch lange Zeit Baustelle, noch länger wird man am Festspielhaus herumwerkeln. Jean Paul würde das gefallen und zu einer weiteren der kleinen Geschichten inspirieren, die als „Idyllen“ gelten, aber tatsächlich bitterböse Auseinandersetzungen mit den Realitäten eines Landes sind, dessen große Revolutionen bis heute nur in den Köpfen stattfanden. Fälbel, Wuz, Schmelzle, Fibel und Katzenberger heißen deren Protagonisten.
Helmut Pfotenhauer versucht, uns die Welt des Jean Paul zu erschließen. Nicht die „äußere“, die der Lebensumstände und des gesellschaftlichen Umfeldes. Hier verweist er auf die „bisher wichtigste Jean-Paul-Biographie“. Er meint Günter de Bruyns 1975 im Mitteldeutschen Verlag in Halle erschienenes Buch. Pfotenhauer versteht sein Werk als „komplementär“ zur Arbeit de Bruyns, als Präsentation eines „erschriebenen Lebens“. Dessen Dimensionen sind gewaltig: 11.000 gedruckte Seiten, 40.000 Seiten nachgelassene Schriften, 4.000 Seiten Briefe und zwischen 1778 und 1817 von Jean Paul selbst in 18 Bänden eingebundene 13.000 Seiten Exzerpte. Letztere, seinen Bibliotheksersatz, erschloss sich der Dichter selbst durch weitere 2.000 Registerseiten.
Es scheint fast aussichtslos, einen Schlüssel zu finden, der dieses gewaltige Werk dem heutigen Leser öffnet. Helmut Pfotenhauer gelingt dies mit der These, dass Jean Paul aus der Not des Nicht-Leben-Könnens unter erbärmlichsten materiellen Verhältnissen zur Tugend des Leben-Erschreibens findet. Am Ende erstand ein wahres Tinten-Universum, wie der Autor formuliert. Geradezu symptomatisch Pauls schon erwähnter Schulmeister Wuz (1793), der sich aus Not seine Bibliothek anhand der Titel des alljährlichen Messekataloges selbst schreibt – 1798 schreibt sich Paul einen „bevorstehenden Lebenslauf“, die 1799 erscheinende „Konjekturalbiographie“, in der sogar der eigene Tod vorweggenommen wird. „Der Dorfschullehrer Richter“, so der Autor über die Entstehensumstände des ersten Romanes „Die unsichtbare Loge“ (1792), „der in einem abgelegenen Nest in Oberfranken sitzt, mitten in der Nacht, wohl nur vom Schein einer Kerze erwärmt, läßt hier in seinem Kopf Wortorgien entstehen und wirft sie mit kratzender Feder auf minderwertiges Papier. So bescheiden können die lebensweltlichen Voraussetzungen der großen Literatur in Deutschland am Ende des 18.Jahrhunderts sein. Und so groß die kompensatorische Kraft!“
Dieses so gar nicht heitere Spielen mit der eigenen Biographie und der ständigen Durchmischung mit der seiner Helden verfolgt Pfotenhauer anhand der großen Romane wie „Hesperus“, „Titan“, „Siebenkäs“ und vor allem am Bespiel der „Flegeljahre“, die er als „Schlüsselbuch der Epoche“ bezeichnet, auf profunde Weise. Jean Paul wird vom Staub der über ihn verfassten Schriften gesäubert – und erscheint plötzlich sehr heutig. „… das begreif ich nicht, der ist noch über Göthe, das ist ganz was Neues“, äußerte sich der Goethe-Freund Karl Philipp Moritz.
Breiten Raum widmet Pfotenhauer den Beziehungen Jean Pauls zur deutschen „Gelehrtenrepublik“. Ja, er hat sie (fast) alle gekannt, mit (fast) allen zumindest brieflichen Umgang gehabt. Er war nicht der weltfremde, bierselige Sonderling als den ihn die Apologeten der Weimarer Heroen gerne immer noch sehen. Dass er mit Schiller keine Gemeinsamkeiten fand ist angesichts der erheblichen nicht nur ästhetischen Differenzen allzu verständlich – ganz anders die Beziehung zu Goethe. Helmut Pfotenhauer kommt immer wieder auf die Ambivalenz dieser offensichtlichen Wahlverwandtschaft zurück. Goethe muss sich dessen stärker als Jean Paul bewusst gewesen sein. Er ging auf Abstand.
Natürlich fehlen in der vorliegenden Biographie auch die Frauen nicht: Karoline von Feuchtersleben (die erste Verlobte), Königin Luise von Preußen, Henriette von Schlabrendorf, Emilie von Berlepsch und und und … „Immer, wenn Frauen ihm zu nahe treten, wird Jean Paul grundsätzlich und macht klar, daß Leben und Liebe für ihn von der Literatur her gesehen sind“, kommentiert Pfotenhauer. Nur eine wehrte sich heftig, die Linda aus dem „Titan“: „Sie, die nicht ausgenutzt, sondern als Frau ernstgenommen werden will, verbittet sich das.“ Es ist Charlotte von Kalb. Es hat ihr nichts genutzt, sie ging als Jean Pauls „Titanide“ in die Literaturgeschichte ein. Und er hat sie später fallen lassen. Helmut Pfotenhauers Sympathien sind auf Seiten Charlottes.
Auch das macht sein Buch zum Lektüregewinn: Der Autor kennt die Schwachstellen seines Protagonisten und er verschweigt sie nicht. Pfotenhauer benennt die menschlichen Schwächen und er analysiert das Versagen des Autors, zum Beispiel beim Versuch sich der das 19. Jahrhundert bestimmenden Gattung der Novelle zu stellen: „Finales Erzählen ist Jean Pauls Sache nicht.“ Obwohl, das ist hinzuzufügen, dieser mit seiner „Vorschule der Aesthetik“ (1804) nachgerade „im Kern eine Theorie der romantischen Poesie“ (Pfotenhauer) vorlegte. Der Romantiker Vorliebe für offene Erzählschlüsse ist bei Jean Paul allerdings anders begründet: Wer den Schreibprozess auf Endlosigkeit anlegt, auch um dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, dessen Texte müssen auf ständiges Weiterschreiben angelegt sein, dürfen also an kein klassisches Ende kommen. Es ist wohl nicht nur das Fehlen eines „bemerkenswerten Einfalls“, wie der Biograph meint, der zum offenen Schluss der „Flegeljahre“ führte. Da dürfte auch erzählerisches Kalkül eine Rolle spielen. Das Schöne an dieser Biographie ist, dass der Autor sich bei manch komplizierter Fragestellung scheut, ein abschließendes Urteil zu fällen.
Pfotenhauers Arbeit erschien im Carl Hanser Verlag. Es gibt vorzügliche Ausgaben einzelner Schriften Jean Pauls. Aber Hanser gebührt das Verdienst, die immer noch lesbarste und solideste Ausgabe „Sämtlicher Werke“ vorgelegt zu haben. Dem Verlag ist für das editorische Wagnis dieser Biographie Respekt zu zollen. Immer noch scheint Günter de Bruyns mittlerweile 40 Jahre alter Befund zuzutreffen: „Wenn … eine Jean-Paul-Renaissance bevorsteht, so zeigt sie sich bisher vorwiegend darin, daß die Zahl der Dissertationen über Teilaspekte seines Werkes zunimmt und die literarisch Interessierten seine Bücher zwar nicht lesen, aber doch ein schlechtes Gewissen dabei haben.“ Pfotenhauer und de Bruyn beenden ihre Biographien mit einem Auszug aus Ludwig Börnes Gedenkrede vom 2. Dezember 1825: „Wir wollen trauern um ihn, den wir verloren, und um die anderen, die ihn nicht verloren. Nicht allen hat er gelebt! Aber eine Zeit wird kommen, da wird er allen geboren, und alle werden ihn beweinen. Er aber steht geduldig an der Pforte des zwanzigsten Jahrhunderts und wartet lächelnd, bis sein schleichend Volk ihm nachkommt.“

Es ist gut, dass Autoren wie Helmut Pfotenhauer dem „schleichend Volk“ der potenziellen Leser dieses wohl demokratischsten Dichters der deutschen Klassik die Jahrhundertpforte versuchen offen zu halten.

Helmut Pfotenhauer: Jean Paul. Das Leben als Schreiben. Biographie, Carl Hanser Verlag, München 2013, 512 Seiten, 27,90 Euro.