von Erhard Crome
Die Linke verschwindet sogar dann, wenn man sich auf sie beruft. Das ist jedenfalls der Eindruck, den die Bürgerlichen seit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise zu erwecken versuchen: Wenn schon Kapitalismus-Kritik, dann machen wir das doch am besten gleich selbst (dann passiert nichts Falsches). So schrieb der als „erzkonservativ“ geltende britische Journalist Charles Moore, der stets auf Seiten Margaret Thatchers stand und als ihr „offizieller Biograph“ gilt, 2011 im britischen Daily Telegraph: „Die Stärke der Analyse der Linken liegt darin, dass sie verstanden haben, wie die Mächtigen sich liberal-konservativer Sprache als Tarnung bedient haben, um sich ihre Vorteile zu sichern. ,Globalisierung‘ zum Beispiel sollte ursprünglich nichts anderes bedeuten als weltweiter freier Handel. Jetzt heißt es, dass Banken die Gewinne internationalen Erfolgs an sich reißen und die Verluste auf jeden Steuerzahler in jeder Nation verteilen. Die Banken kommen nur noch ,nach Hause‘, wenn sie kein Geld mehr haben. Dann geben unsere Regierungen ihnen neues.“ Daraus folgerte er – und er will dabei den Eindruck erwecken, als fiele ihm das unendlich schwer: „Es hat mehr als dreißig Jahre gedauert, bis ich mir als Journalist diese Frage stelle, aber in dieser Woche spüre ich, dass ich sie stellen muss: Hat die Linke nicht am Ende recht?“
Frank Schirrmacher, einer der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, nahm diesen Ball auf und setzte hinzu (FAZ, 15. August 2011): „Ein Bürgertum, das seine Werte und Lebensvorstellungen von den ,gierigen Wenigen‘ (Moore) missbraucht sieht, muss in sich selbst die Fähigkeit zu bürgerlicher Gesellschaftskritik wiederfinden.“ Das hat er denn auch mit seinem Bestseller: „EGO: Das Spiel des Lebens“ (2013) vorexerziert. Es wurde von verschiedenen Seiten als gewichtiger Beitrag zur Gesellschaftskritik gelesen. Auch etliche Linke nickten zustimmend und meinten, dies sei nun ein, wenn auch unverhoffter Verbündeter. Dabei wurde nicht begriffen, dass diese Art bürgerlicher Gesellschaftskritik gerade dazu da ist, die linke Kritik überflüssig zu machen.
Nun also Wolfgang Streeck. Der Mann ist Soziologe und derzeit Direktor des einflussreichen Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln. Als die Schröder-Leute Ende der 1990er Jahre die Agenda 2010 ausbrüteten, war Streeck einer derjenigen, die die dazu nötigen Eier gelegt hatten. Er gehörte in dem damaligen „Bündnis für Arbeit“ zu denen, die den prekären Beschäftigungssektor als wohlfeiles Instrument für ein millionenfaches deutsches Jobwunder priesen. Jetzt räsoniert er in Sachen Krise. Nach dem Schirrmacher-Rezept: die linke Kritik wird belobigt, kommt in dem Werk aber nicht vor – gleichsam als sei er einer der ersten an vorderster Front der aktuellen Gesellschaftskritik.
Eine der Ausgangsthesen in seinem aktuellen Buch lautet, dass Kapitalismus und Demokratie – anders, als es die demokratiepolitischen Sonntagsreden gemeinhin behaupten – nicht in eins fallen, sondern dieser Zusammenhang immer wieder neu hergestellt werden muss. Deshalb sei für die Nachkriegssituation in Westeuropa – hier muss angemerkt werden: nicht zuletzt unter der Einwirkung der Systemauseinandersetzung mit dem „realen Sozialismus“ – charakteristisch gewesen, dass zwischen beiden ein Kompromiss und Zusammenhang hergestellt wurde, den Streeck „demokratischen Kapitalismus“ nennt. „Der demokratische Kapitalismus der Nachkriegszeit zeichnete sich dadurch aus, dass in seiner politischen Ökonomie zwei konkurrierende Verteilungsmuster zugleich institutionalisiert waren, die ich als Marktgerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit bezeichnen möchte.“ (Hervorhebungen im Original) Zugleich meint er: „Wirtschaftskrisen im Kapitalismus resultieren aus Vertrauenskrisen auf Seiten des Kapitals und sind keine technischen Störungen, sondern Legitimationskrisen eigener Art.“ (Hervorhebung im Original) Insofern habe nach den Krisenentwicklungen Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre gegolten: „Auf kontinuierlich hohes Wachstum als demokratisch-kapitalistische Friedensformel war kein Verlass mehr. Auf Profite zu verzichten, um Vollbeschäftigung zu erhalten, oder Produktion und Produkte unter hohem Aufwand so zu gestalten, dass sie sichere Beschäftigung bei hohen Löhnen und geringer Lohnspreizung gewährleisteten, hätte von den Unternehmen und den von ihren Gewinnen Abhängigen Opfer verlangt, die zunehmend inakzeptabel hoch erschienen.“ So wurde denn der Neoliberalismus erfunden, der den Nachkriegskompromiss vom „demokratischen Kapitalismus“ aufkündigte.
Charakteristisch dafür ist der Übergang „vom Steuerstaat zum Schuldenstaat“. Der bedeutet: „Je weniger das Steuersystem das Eigentum der Besserverdienenden und ihrer Erben in Anspruch nimmt, desto ungleicher wird die Verteilung des Vermögens, was sich unter anderem in einer hohen Sparrate am oberen Rand der Gesellschaft ausdrückt. Damit entsteht für diejenigen, denen die staatliche Steuerpolitik erlaubt, privates Überschusskapital zu bilden, das Problem, für dieses Anlagemöglichkeiten zu finden.“ Das wiederum verändert den Staat: „Die Sieger im Verteilungskampf am Markt und mit dem Finanzamt müssen, wenn ihr Sieg vollständig sein soll, das Kapital, das sie Staat und Gesellschaft abgewonnen haben, sicher und gewinnbringend anlegen können. Ihnen liegt deshalb an einem Staat, der ihnen ihr Geld nicht nur als Eigentum belässt, sondern es ihnen anschließend als Kredit wieder abnimmt, es für sie sicher verwahrt, ihnen für das von ihnen Geborgte-statt-Konfiszierte obendrein noch Zinsen zahlt und ihnen zu guter Letzt die Möglichkeit gibt, es in ihrer Familie an die nächste Generation weiterzureichen – zu Erbschaftssteuern, die längst zu Bagatellsteuern geworden sind. Damit trägt der Staat als Schuldenstaat zur Perpetuierung der gesellschaftlichen Schichtungsverhältnisse und der ihnen innewohnenden sozialen Ungleichheit nachhaltig bei.“
Damit ist eine neue Phase im Verhältnis zwischen Kapitalismus und Demokratie eingeleitet. Der Kern des Problems besteht in folgendem: „Der von seinen Bürgern regierte und, als Steuerstaat, von ihnen alimentierte demokratische Staat wird zum demokratischen Schuldenstaat, sobald seine Subsistenz nicht mehr nur von den Zuwendungen seiner Bürger, sondern in erheblichem Ausmaß auch von dem Vertrauen von Gläubigern abhängt. Anders als das Staatsvolk des Steuerstaates ist das Marktvolk des Schuldenstaates transnational integriert. An den jeweiligen Nationalstaat sind die Mitglieder des Marktvolkes lediglich vertragsrechtlich gebunden, als Investoren statt als Bürger. Ihre Rechte dem Staat gegenüber sind nicht öffentlicher, sondern privater Art: nicht aus einer Verfassung resultierend, sondern aus dem Zivilrecht.“ Der demokratische Schuldenstaat hat es daher gleichsam mit zwei Staatsvölkern zu tun: dem auch bisher üblichen Volk von Staatsbürgern, die die Schulden qua Staatsverschuldung gegebenenfalls zu schultern haben, und dem „Volk“ von Gläubigern, deren Rendite-Erwartungen der Staat entsprechen muss.
Zwischen beiden zu manövrieren und nach Möglichkeit beide bei Laune zu halten, ist das eigentliche Problem des demokratischen Schuldenstaates. Die Verschuldung ist daher eine Einschränkung der staatlichen Souveränität, die zu Lasten der demokratischen Entscheidungsfreiheit des Staatsvolkes geht und auf eine Ermächtigung des Marktvolkes hinausläuft. Dessen „Angehörige“ jedoch – als Gläubiger – haben nichts wichtigeres im Sinn, als im Krisenfall den Vorrang ihrer Ansprüche gegenüber denen des Staatsvolkes – als Ansprüche der Lohnabhängigen, Rentner, sozial Abzusichernden und der öffentlichen Daseinsvorsorge – geltend zu machen, den sie durch deren demokratischen Entscheidungsspielraum bedroht sehen: Staaten können Gesetze machen, mittels derer sie Verträge lösen.
Vor diesem Hintergrund gelangt Streeck dann zu den Umrissen eines neoliberalen „Konsolidierungsstaates“, dessen Zweck dem Grunde nach darin besteht, die Spielräume des demokratischen Verfassungsstaates einzugrenzen. Wenn aber positive Opposition nichts mehr ausrichten kann gegen „die Abschöpfungsexperten des globalen Finanzkapitalismus“, sieht Streeck nur noch die Wut derer, die sich für dumm verkauft fühlen, und „Pflastersteine“, die geworfen werden.
Das aber meint nicht die Herrschaft der Steinewerfer, sondern dass nach dem großen Chaos eine verständige neue „Elite“ an die Hebel der Macht kommt, die nicht mehr neoliberal kontaminiert ist. Genau betrachtet aber bedeutet dies, dass die „bürgerliche Gesellschaftskritik“ und diejenigen, die einst die Eierleger für die „Agenda 2010“ waren, nicht mehr weiter wissen.
Wolfgang Streeck: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 271 Seiten, 24,95 Euro.
Schlagwörter: Erhard Crome, Kapitalismus-Kritik, Krise, Linke, Wolfgang Streeck