von Erhard Weinholz
Schlecht lebten die meisten ja nicht in der DDR. Aber es gab doch genug, das einem den Tag vermieste. Zum Beispiel die Mahlzeiten, die man uns an der Humboldt-Uni, in der Mensa der Sektion Wirtschaftswissenschaften, mittags auf den Teller klatschte: Übelriechende, zerkochte Kartoffeln und matschiges Gemüse schwammen in der rotbraunen Einheitssoße aus dem RGW-Verbundnetz. Einen Monat und nie wieder. Doch waren damals, 1969/70, die Alternativen rar in der Gegend am S-Bahnhof Marx-Engels-Platz. Nur eine Stampe an der Neuen Promenade, das „Mariola“, bot einen bescheidenen Mittagstisch. Es hat noch fortexistiert, als viele bekannte Restaurants aus Ostzeiten längst verschwunden waren, bis in die späten 90er – inmitten all des Neuen rund um den Hackeschen Markt ein Fremdkörper zuletzt, so schäbig, dass sich dort nicht einmal Altberliner Gastlichkeit auf Zille-Art in Szene setzen ließ.
Seit den frühen 70er Jahren konnte ich dann preiswert im „Gastmahl des Meeres“ essen, Karl-Liebknecht-, Ecke Spandauer Straße. Heilbuttfilet gebraten, dazu Spaghetti mit Letscho und Käse überbacken – die Portion für 4,50 Mark war kaum zu bewältigen. Trank man aber noch ein kleines Bier dazu, schon waren, Trinkgeld eingeschlossen, sechs Mark weg. Das konnte ich mir bei 275 Mark Stipendium pro Monat nur hin und wieder leisten.
Einziger Ausweg: Ich musste des Öfteren selbst kochen oder mich, wenn die Zeit dafür nicht reichte, kalt verpflegen. Unerhört fette Cremestücke vom Backwarenkombinat habe ich damals verzehrt – heute würde ich bei solcher Ernährung pro Woche ein Kilo zunehmen – und Schmelzkäse, viel Schmelzkäse. Es gab ihn aus Edamer, Gouda, Tollenser und Emmentaler, aus Chester und sogar aus Steinbuscher. Es gab ihn mit Kümmel, Kräutern, Champignons, Salami, Schinken, Pfeffer, Pfeffer und Gurke, Pfeffer und Tomatenmark, Tomatenmark und Senf (Marke „Party“), mit gerösteten Zwiebeln, mit Paprika… Wenn die DDR in der Angebotsbreite irgendwo Weltspitze war, dann wahrscheinlich hier.
Was ich zu jener Zeit kochte, war weit weniger vielfältig. Oft hatte ich Linsen im Topf, meist Linsen mit Bauchspeck, das 500-Gramm-Glas für 2,20 Mark. Das Etikett zeigte in Farbe den Inhalt: beim Speck viel Rot und wenig Weiß. In Wahrheit bestand er fast nur aus Fett. Zwei, drei zerkleinerte Kartoffeln gekocht, den Linsenbrei darauf, ein paar Mal umrühren, fertig. Auch der Spaghettiauflauf machte keine große Mühe: Zu den fertigen Nudeln kamen Mischgemüse und eine Knacker oder ein paar Scheiben gekochter Schinken oder ein Stück Räucherfisch – auf Berliner, westfälische oder ostfriesische Art hieß das mir bei –, zwei Eier darüber, stocken lassen… Wahrscheinlich habe ich das gleich aus der Pfanne gegessen.
Irgendwann in den 80er Jahren gab es keine Linsen im Glas mehr. Womöglich hatten wir den Großteil des Grundstoffs importieren müssen, die Linse ist ein anspruchsvolles Gewächs. Ebenso verschwand der gekochte Schinken aus dem Angebot, jedenfalls in Berlin, und sogar die Zungenwurst, die früher als etwas ganz Ordinäres gegolten hatte. Sie wurde ersetzt durch die Fleischbrätwurst – ne danke! Natürlich hatten die Ost-Schweine weiterhin Schinken und Zungen, aber die gelangten nun in den Westen. Der Schweinebauch dagegen blieb im Lande und ward zu Menschenbauch: Zuletzt waren vierzig Prozent der Frauen und zwanzig Prozent der Männer in der DDR übergewichtig.
Überhaupt verschwand immer wieder, was gut gewesen war. In den frühen 70ern, zu Beginn der Ära Honecker, hatte man das Volk einige Zeit mit allerlei Konsumgut aus dem Westen erfreut: mit Porzellan, Schuhen, Textilien und auch Nahrungsmitteln. Fisch mit Sauce in der Assiette zum Beispiel. Nach vielleicht zwei Jahren wurde der Import durch Inlandsprodukte abgelöst – da waren die Saucen aber nicht mehr so wohlschmeckend –, und nochmals zwei, drei Jahre darauf waren auch die nicht mehr zu haben.
In den späten 70ern, meine Studentenzeit war vorbei, frühstückte ich gern in der Selbstbedienungsgaststätte im Interhotel am Alex. Die Besatzungen der Rettungswagen aus der Marienburger Straße, die sich auskannten in der Stadt, sah man oft dort; das Angebot war reichhaltig für hiesige Verhältnisse. Leider blieb es nicht so, und irgendwann hatten auch nur noch Hotelgäste Zutritt.
Zu Mittag aß ich manchmal im Restaurant im „Haus des Lehrers“, und zwar, genau wie es jemand später in „Meine unverheirateten Freunde“ beschrieben hat, immer das gleiche Gericht: Huhn Supreme. Eines Tages stand es nicht mehr auf der Speisekarte. Der Koch war fortgegangen, niemand konnte mir sagen, wohin. Vielleicht war er den Schinken und Zungen gefolgt.
Selbst die Mittagstafel auf den DDR-Urlauberschiffen verlor an Qualität: An einem Montag im Oktober 1965 konnte man auf der „Fritz Heckert“ zwischen gefüllter Rindslende und geschmortem Herz in Rotweinsoße wählen, am Montag, dem 1. Mai 1978, dem Feiertag aller Werktätigen also, auf der „Völkerfreundschaft“ zwischen Gemüsesuppe mit Rindfleisch und Erbsensuppe, jawoll, Erbsensuppe mit Rauchfleisch. Am Sonntag darauf standen immerhin gratinierte Fischschnitte und Kalbsbraten zur Wahl. An einem Sonntag im April 1927 hingegen bot die Mittagskarte auf dem Dampfer „München“, keinem Luxusliner, sondern einem Mittelklasseschiff des Nordddeutschen Lloyd, unter anderem: Schnittchen von Gänseleberpastete, klare Schildkrötensuppe, Lachs in Rheinwein gedämpft mit Feinschmecker-Sauce, gebratenen böhmischen Fasan sowie Nesselrode-Pudding oder Ambrosia-Rahmbombe. Auf der „Völkerfreundschaft“ hingegen wurden an besagtem Sonntag zum Abschluss Mandarinenstücke in Joghurt serviert.
Hatte man den Speisenzettel in der DDR durchgängig proletarisiert? Nein, dafür hatte die deutsche Arbeiterbewegung nicht hundert Jahre lang gestritten und gelitten! Man strebte hinauf zu einem besseren Leben, ohne sich jedoch zu wahrem Küchenraffinement aufschwingen zu können oder zu wollen; man blieb irgendwo zwischen Proletarischem und Bürgerlichem stecken. Symbol dessen waren die Steaks mit Pommes frites und Champignons, in der späten DDR das Standardgericht bei öffentlich-festlichen Anlässen aller Art. Zwar waren die Steaks oft zäh und zadderig, die Pommes frites entweder matschig oder zu hart, und die Champignons schmeckten wie Radiergummi, aber es machte eben mehr her als ein gewöhnliches Kotelett mit Kartoffeln und Gemüse.
Gern wurde das Niveau auch durch Umbenennung gehoben: Ganz gewöhnliches Leipziger Allerlei aus Möhren, Erbsen und Blumenkohl, ohne Spargel, von Morcheln gar nicht zu reden, avancierte damals auf den Speisekarten der Restaurants zum „Edelgemüse“. Fehlten für Besseres die Mittel? Immerhin war die Wirtschaft zu jener Zeit weit produktiver als im Jahre 1927. Doch was half es: Sie war der stets vergebens kritisierten Tonnenideologie verhaftet und entsprach damit anscheinend den Ansprüchen der Herrschenden ebenso wie denen der breiten Masse.
Ich erinnere mich noch an Einkäufe bei uns auf dem Lande: Nicht groß genug konnten die Wurstpakete sein, die man beim Dorffleischer über die Ladentheke gereicht bekam, und den Preis trompeteten die Verkäuferinnen heraus, als sei er eine Siegesmeldung.
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