von Edgar Benkwitz
China hat seit März dieses Jahres eine neue Führung. Weltweit werden aufmerksam die Aktivitäten von Präsident Xi Jinping und Ministerpräsident Li Keqiang verfolgt, um Voraussagen über den zukünftigen Kurs Chinas, vor allem auf außenpolitischem Gebiet, zu treffen. Die symbolträchtige chinesische Politik setzt auch hier Akzente, die von Bedeutung sind. So begab sich der neue Präsident auf seiner ersten Auslandsreise nach Russland, sein Ministerpräsident wählte hingegen Indien für seinen ersten Staatsbesuch, um dann nach Pakistan, der Schweiz und Deutschland weiterzureisen.
Die Wahl Indiens als die Nr.1 im Besuchsprogramm des chinesischen Premiers kam selbst für indische Politiker überraschend. In der Vergangenheit wurde noch immer Pakistan, der engste Verbündete Chinas, vorgezogen. Doch in Asien ist einiges in Bewegung geraten, auf das sich die chinesische Außenpolitik einstellt. Seit Verkündung der neuen Asien-Pazifik-Strategie der USA vor einem Jahr fühlt sich China in seiner Sicherheit bedroht und steuert dagegen. Japan, als einer der engsten Verbündeten der USA, bekommt das besonders zu spüren. Die Zuspitzung des Streits um die Diaoyu-Inselgruppe (japanisch: Senkaku-Inseln) zeigt das deutlich. Chinas Diplomatie ist bemüht, den Einfluss der USA in Asien möglichst zu neutralisieren. Das verstärkte Werben um Indien, um das sich auch die USA eifrig bemühen, legt davon Zeugnis ab. Doch den Beziehungen Indien-China fehlt der qualitative Durchbruch; beide Seiten packten hemmende Faktoren bisher nicht konsequent an.
Das ist vor allem das seit der Kolonialzeit bestehende Grenzproblem. Die fast 4.000 Kilometer lange gemeinsame Grenze ist nicht völkerrechtlich verbindlich demarkiert, von beiden Seiten gibt es Gebietsforderungen, die 1962 sogar zu einem militärischen Konflikt führten. Jetzt wollen der chinesische Ministerpräsident Li Kequiang und sein indischer Kollege Manmohan Singh dieses Problem endgültig aus der Welt schaffen. Die Zeit sei dafür reif, so die beiden Staatsmänner. China ist bereit, die gegenwärtige Waffenstillstandslinie in eine internationale Grenze umzuwandeln. Es würde sich dabei den 1962 geschaffenen direkten Zugang von seiner Westprovinz und Tibet zu Pakistan endgültig sichern. Indien, bisher zögerlich, stimmt nun auch einer dauerhaften Lösung zu. Die Times of India fordert von ihrer Regierung, auf China zuzugehen und historisch gewachsene Vorbehalte fallen zu lassen. „Die Waffenstillstandslinie in eine internationale Grenze umzuwandeln, ist die bestmöglichste Lösung für dieses komplizierte Problem“, schrieb die einflussreichste indische Zeitung und ergänzte, dass damit nicht nur die militärische Konfrontation mit China beendet, sondern sich auch eine ungeahnte wirtschaftliche Zusammenarbeit auftun würde. Das hätte auch langfristig positive Auswirkungen auf das komplizierte Verhältnis Pakistans zu Indien, so die Zeitung weiter. Li Keqiang versuchte mit einer Charmoffensive, indische Vorbehalte gegenüber seinem Land auszuräumen. Er bot bedeutende Investitionen vor allem in die Infrastruktur Indiens an. Doch für Indien ist das wirtschaftlich viel stärkere und sich schneller entwickelnde China immer noch etwas unheimlich. Es möchte durch eine zu kräftige Umarmung nicht in Atemnot geraten – sprich: es wird sich unter keinen Umständen vereinnahmen lassen und pocht in allen Fragen auf Gleichrangigkeit. So schlug Li Keqiang auch nur die leisen Töne an, als er mit Familienangehörigen des indischen Arztes Dwarkanath Kotnis zusammentraf, der mit der chinesischen Volksbefreiungsarmee gegen die japanische Okkupation kämpfte und 1942 an der Front umkam. Doch mit dieser Geste war das Signal gesetzt, auf welcher Seite China Indien gern sehen möchte.
Pakistan war die zweite Station für Li Keqiang. Seine Regierungsmaschine wurde nach Überfliegen der indo-pakistanischen Grenze von sechs Kampfjets eskortiert, die mittels chinesischer Lizenz in Pakistan produziert werden. Diese protokollarisch- martialische Geste sollte wohl auch Indien zeigen, was Pakistan China verdankt. Und in der Tat ist in Pakistan eine Charmoffensive nicht notwendig, zu eng sind seit Jahrzehnten die Beziehungen. China braucht Pakistan, es hat enorm investiert und will auch weiterhin die Früchte ernten. Das ist vor allem die Nutzung der geostrategischen Lage Pakistans, gewissermaßen als Riegel von Zentralasien und dem Westteil Chinas an Indien vorbei zum Indischen Ozean. Über den Karakorum-Highway hat sich China schon vor Jahren einen direkten Zugang zum Indischen Ozean geschaffen. Pakistans Wirken als einflussreiches Land in der islamischen Welt ist es auch zu verdanken, dass China hier wegen seiner Politik im noch überwiegend muslimischen Sinkiang nicht auf der Anklagebank sitzt. China wird diese Vorteile nicht aufgeben. Pakistan wiederum ist mehr denn je auf China angewiesen, da die Beziehungen zum alten Verbündeten USA immer komplizierter werden. So strotzten denn die Reden von gegenseitigen Beteuerungen der „ewigen Freundschaft“.
China bediente auch die Wunschliste der Pakistanis nach wirtschaftlicher und militärischer Zusammenarbeit. Trotzdem wird sich im Verhältnis beider Staaten einiges ändern. Chinas Interessen in Indien und in Afghanistan zwingen es, in bestimmten Fragen gegenüber Pakistan Distanz zu wahren. Auch bedrohen zunehmender Terrorismus und Gesetzeslosigkeit, die bis zur Unregierbarkeit Pakistans führen könnten, grundlegend die chinesischen Interessen in Pakistan. China möchte im Interesse größerer strategischer Ziele an seiner Westflanke Ruhe haben. Li Keqiang vermittelte das seinen Gastgebern souverän. Mit ostasiatischer Höflichkeit lobte er die pakistanische Außenpolitik, „die immer mittels des Dialogs Probleme löste“. Man reibt sich bei diesen Worten die Augen, denkt man nur an die Politik der jahrzehntelangen Konfrontation gegenüber Indien. Jetzt appellierte Li Keqiang an die Verantwortung Pakistans für regionale Stabilität und den Weltfrieden, womit er Pakistan auf einen Weg der Kooperation mit allen südasiatischen Staaten bringen will. Dazu gibt es angesichts der drängenden Probleme in der Region auch keine Alternative. Das scheinen selbst die Macht ausübenden Kreise in Pakistan vorsichtig anzuerkennen, zumindest lassen die ersten Äußerungen des neu gewählten pakistanischen Premierministers diese Deutung zu.
Die Schweiz war überraschenderweise der erste europäische Anlaufpunkt für die Weiterreise von Li Keqiang. Doch wurden hier Themen behandelt, die für das Verhältnis Chinas zu Europa von großer Bedeutung sind. Letzten Schliff bekam ein Freihandelsabkommen, das erste, das China mit einem Staat Europas(außer Island) abschließen wird. Mit Schweizer Finanzfachleuten gab es einen ausführlichen Meinungsaustausch. Die Neue Zürcher Zeitung vermutet, dass damit eine intensive Zusammenarbeit mit dem Schweizer Finanzsektor eingeleitet wird. Hintergrund könnte die angekündigte Konvertibilität der chinesischen Währung sein, aber auch die Einrichtung einer Clearingstelle für die chinesische Währung am Finanzplatz Schweiz.
Und der Besuch in Deutschland? In Erinnerung bleiben dem Betrachter zwei Dinge. Li Keqiang setzte sich mit seiner Haltung zum Export chinesischer Solarmodule durch. Er warnte eindringlich vor EU-Sanktionen in dieser Frage und gewann dafür auch die Bundeskanzlerin. Offensichtlich wirkte diese gemeinsame Haltung auch auf die EU-Kommission, die am 4. Juni zwar vorläufige Strafzölle verhängte, dies aber entgegen den ursprünglichen Vorstellungen in einer gemilderten Form tat. Zweitens hatte der chinesische Ministerpräsident am ersten Tag seines Deutschlandbesuchs den brandenburgischen Ministerpräsidenten als Gastgeber, da die Kanzlerin bekanntlich zum Fußballspiel nach London geflogen war. Wie das der chinesische Gast empfand, ist nicht bekannt. Aber er nutzte die Gelegenheit, um am geschichtsträchtigen Ort des Potsdamer Abkommens die Rückgabe der Diaoyun-Inseln von Japan zu fordern. Im Cecilienhof hatten die Siegermächte 1945 bekräftigt, dass nach der Kapitulation Japans alle geraubten chinesischen Gebiete zurückgegeben werden müssen. So zeigte auch der Besuch von Li Keqiang in Deutschland, wie geschickt und falls notwendig auch auf sehr nachdrückliche Weise China seine Interessen vertreten kann.
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