von Ulrich Busch
Die Steuerpolitik gehört bekanntlich zu den sensibelsten Bereichen des politischen Handelns. Dies gilt besonders in Wahljahren, wo es für die Parteien darauf ankommt, die Wählerinnen und Wähler nicht zu verprellen, sondern bei Laune zu halten und für sich zu gewinnen. Bewährtes Mittel dafür sind kleine oder größere Steuergeschenke in Form von Steuersenkungen, die dem Wahlvolk für die Zeit nach der Wahl in Aussicht gestellt werden. Da niemand gerne Steuern zahlt und zudem fast alle davon überzeugt sind, eigentlich schon viel zu viel Steuern zu zahlen, verfängt dieses Mittel gewöhnlich. Das heißt, die Parteien versuchen sich in Wahljahren in Steuersenkungsphantasien zu übertreffen. Steuererhöhungsvorschläge dagegen sind tabu. Sie gelten als sicherer Weg in eine Wahlniederlage und sind daher selbst dann, wenn die ökonomische Vernunft sie unabweislich auf die Tagesordnung setzt, in Wahlprogrammen nicht präsent. – So die politische Erfahrung vergangener Wahlperioden.
Diesmal aber scheint alles anders zu sein: Während die Regierungsparteien CDU/CSU und FDP ganz im Sinne der bisherigen politischen Logik den Wählerinnen und Wählern vage Steuerentlastungen versprechen und allen Forderungen nach einer Wiedereinführung der Vermögensteuer und einer Erhöhung der Erbschaftsteuer eine klare Absage erteilen, treten die Oppositionspartien mit Vorschlägen für Steuererhöhungen vor das Wahlvolk. Das ist neu und lässt darauf schließen, dass sich die wirtschaftliche Lage und die Verteilungssituation geändert haben, was eine veränderte Wahlkampfstrategie möglich macht.
Die Gründe dafür sind folgende: Erstens hat die Finanz- und Wirtschaftskrise die Einnahmebasis des Staates erheblich in Mitleidenschaft gezogen: So verzeichneten Bund, Länder und Kommunen in den Jahren 2009 bis 2012 durch die Krise rund 203 Milliarden Euro Mindereinnahmen, die in den Kassen fehlen. Zweitens gingen dem Staat durch Steuersenkungen in der Vergangenheit, durch die klientelbezogenen Steuerrechtsänderungen seit 1998 und durch die konjunkturellen Stützungsmaßnahmen seit Ausbruch der Krise enorme Mittel verloren. Allein für 2013 beläuft sich der hierdurch bewirkte Einnahmeverlust auf rund 45 Milliarden Euro. Profitiert aber haben davon nur wenige, vor allem Unternehmen, Besserverdienende und Vermögende, während die Ausgabenpolitik des Staates außerordentlich restriktiv verlief. Insbesondere bei öffentlichen Investitionen besteht inzwischen vielerorts Nachholbedarf. Drittens hat die Steuersenkungspolitik der vergangenen Jahre dazu beigetragen, die Schieflage in den Einkommens- und Vermögensverhältnissen zu verstärken und die Polarisierung zwischen „reich“ und „arm“ immer mehr evident werden zu lassen. Dies findet mit der Zeit immer weniger Befürworter und stößt zunehmend auf Kritik. Viertens kommt hinzu, dass die beschlossene „Schuldenbremse“ in Deutschland und der „Fiskalpakt“ in Europa perspektivisch Steuererhöhungen unausweichlich machen. Dies ist dadurch begründet, dass der Abbau der Neuverschuldung durch eine Reduktion der Staatsausgaben, wie es die „Schuldenbremse“ vorschreibt, unter den Bedingungen einer konjunkturellen Flaute oder gar Krise zwangsläufig dazu führt, dass die gesamtwirtschaftliche Aktivität zurückgeht. Dadurch fehlen dem Staat am Ende Steuereinnahmen, was die Schulden steigen lässt. Dieser Wirkungszusammenhang wird als „Schuldenparadoxon“ bezeichnet. Ist der Weg in eine höhere Neuverschuldung durch die „Schuldenbremse“ aber verbaut, so bleiben als Lösung nur Steuererhöhungen, wodurch die gesamtwirtschaftliche Aktivität weiter eingeengt wird. Die Wirtschaft bewegt sich dann in Richtung einer Deflations- und Stagnationsspirale, aus der nur schwer wieder auszubrechen ist.
Die hier beschriebene Gesamtsituation lässt sich in dem Begriff „strukturelle Unterfinanzierung des Staates“ zusammenfassen. Tendiert die Wirtschaft überdies zu geringem Wachstum, so steht die Politik vor einem echten Problem: Einerseits fehlen ihr wegen früherer Steuergeschenke und nachlassendem Wirtschaftswachstum die Mittel, um die anstehenden Aufgaben ordentlich finanzieren zu können, andererseits verbietet die „Schuldenbremse“, das Defizit durch neue Kredite auszugleichen. Die Antwort hierauf kann nur lauten: Steuererhöhungen! Dies zu verkünden aber verbietet den Regierungsparteien ihre Wahlkampflogik. Auch würde es ihnen schwer fallen, die früher großzügig verteilten Wahlgeschenke nun wieder zurückzufordern. Anders die Oppositionsparteien, diese können ungeniert Steuererhöhungen fordern. Zum einen, weil ihrer sozialen Programmatik ohnehin eine andere Steuerpolitik entspricht als die zuletzt praktizierte. Zum anderen, weil die Steuersenkungen in der Vergangenheit ihren Wählerinnen und Wählern kaum zugute gekommen sind. Eine Korrektur derselben dürfte hier also kaum auf größere Widerstände treffen. Die damit verbundene Mehrbelastung würde vor allem Spitzenverdiener und Vermögende treffen, die so Mehreinnahmen aber würden vielen zugute kommen, nicht zuletzt den unteren Einkommensschichten und Vermögensarmen.
So verkünden SPD und Grüne, durch ihre Steuerreform zusätzliche Steuergelder in Höhe von 4,8 beziehungsweise 4,5 Milliarden Euro einnehmen zu wollen. Die Linkspartei dagegen setzt vor allem auf Steuersenkungen. Den dadurch entstehenden Aufkommensverlust von 17,3 Milliarden Euro will sie aus anderen Quellen decken – aus der geplanten „Millionärsteuer“, durch Änderungen bei der Unternehmensbesteuerung, durch eine progressive Besteuerung von Kapitalerträgen… Als hauptsächliche Mittel enthalten die Steuerkonzepte der Oppositionsparteien die Anhebung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer, eine höhere Erbschaftsteuer, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und die Inkraftsetzung der Finanztransaktionssteuer. So ökonomisch richtig und sozial ausgewogen diese Maßnahmen auch sein mögen, ihr Ergebnis reicht nicht hin, um das strukturelle Defizit des Staates auch nur annähernd auszugleichen. Es wird also weitere Steuererhöhungen geben müssen – oder eben eine höhere Neuverschuldung des Staates. Wird letztere ausgeschlossen, so erweisen sich die Steuererhöhungskonzepte der Oppositionsparteien als zwar in die richtige Richtung gehend, hinsichtlich ihres Volumens aber als zu bescheiden und daher wenig wirkungsvoll. Sie würden, falls sie umgesetzt werden, das strukturelle Finanzierungsproblem des Staates etwas entschärfen, es aber nicht lösen. Dies macht schon die quantitative Relation der angestrebten steuerlichen Mehreinnahmen gegenüber den Steuereinnahmen insgesamt deutlich: 2012 betrugen diese 551,8 Milliarden Euro; für 2017 sind 698,8 Milliarden. Euro prognostiziert.
Um das strukturelle Defizit im Staatshaushalt zu beheben, bedarf es wesentlich radikalerer Ideen als sie die Steuererhöhungsvorschläge von SPD und Grünen beinhalten. Und das Konzept der Linkspartei ist ohnehin ohne Realitätswert. Hat eine Partei keine Chance auf einen Wahlsieg, so kann sie faktisch jedes Konzept vertreten. Es wäre ohne Bedeutung. Würden SPD und Grüne dagegen das strukturelle Finanzierungsproblem des Staates in ihren Wahlprogrammen entschiedener angehen, so würden sie sich möglicherweise die Chance auf einen Wahlsieg nehmen. Es sei denn, die allgemeine Stimmung schlüge bis zum Wahltag noch um in eine allgemeine „Steuererhöhungseuphorie“, die nicht nur die Parteien erfasste, sondern auch die Wählerinnen und Wähler. Dies ist aber eher nicht zu erwarten.
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