16. Jahrgang | Nummer 9 | 29. April 2013

Lappel wurde überfahren

von Frank-Rainer Schurich

Bertolt Brecht schrieb 1948 in sein „Arbeitsjournal“: „berlin, eine radierung churchills nach einer idee hitlers. berlin, der schutthaufen bei potsdam …“ Nach dem Krieg erwachte in diesem riesigen Schutthaufen das Leben neu, wurde angefangen aufzuräumen, zu ordnen und zu gestalten. Häuser, die der Krieg stark in Mitleidenschaft gezogen hatte, stürzten ein, die Menschen hungerten. Und auch das Verbrechertum schlief nicht. Der „Tätigkeitsbericht der Polizeiinspektionen vom Mai 1945 bis Dezember 1947“ gibt uns einen Einblick in die wirren Nachkriegsgeschehnisse.
So wurde am 30. Mai 1946 der kleine Bunker im Friedrichshain gesprengt. Der zweite Versuch gegen 18.20 Uhr, mit dem hauptsächlich Kriegsgerät vernichtet werden sollte, hatte eine ungeahnte Wirkung. Eine Granate, die sich noch in einem Geschützrohr befand, wurde bis zur Straße am Friedrichshain geschleudert, wo sie explodierte. Sieben Menschen wurden verletzt. Ein Ereignis, dass natürlich eine Polizeimeldung wert war. Sechs Tage zuvor ging in der Blücherkaserne der Polizei eine Zehn-Zentner-Mine hoch. Ein Arbeiter der eingesetzten Sprengstofflagerfirma, „der mit dem Aufmeißeln der Mine beschäftigt war“ (!!!), verunglückte dabei tödlich.
Der schlechte bauliche Zustand vieler Häuser führte häufig zu Schadensereignissen. So stürzte am 22. Mai 1946 in der Freiligrathstraße 7 in Kreuzberg das Wartezimmer eines Arztes ein, wobei eine Person getötet wurde. Für einen Maurer kam ebenfalls jede Hilfe zu spät. Er wurde am 16. Mai 1947 tot in seiner Wohnung in der Kleinen Alexanderstraße 17 in Mitte gefunden. „Der hinzugezogene Arzt stellte Tod durch Verhungern fest. Die Leiche wurde vom Sozialamt abgeholt, Angehörige nicht vorhanden…“
Dass am 4. August 1947 unbekannte Jugendliche, die nicht an Auszehrung sterben wollten, bei der Firma JAPOL-Chemie in Neukölln eingebrochen waren und Schlämmkreide entwendeten, hatte ein folgenschweres polizeiliches Nachspiel. Das Diebesgut mit dem süßlichen Geschmack wurde von den findigen Hungerköchen als Brotaufstrich und als feinste Suppengrundlage vertrieben, so dass die Bewohner dieser Gegend im wahrsten Sinne des Wortes auf den Geschmack gekommen waren: Zwei Tage später versammelten sich zirka 100 Personen vor der Firma, um etwas Schlämmkreide nachzutanken. „Die Menge wurde durch Einsatz des Überfallkommandos zerstreut“, heißt es dazu lakonisch im Polizeibericht.
Während die Masse darbte, schlugen sich Schwarzhändler und Schieber die Bäuche voll. Fahndungserfolge, Durchsuchungen und Razzien spiegeln in den Tätigkeitsberichten der Polizeiinspektionen den schier aussichtslosen Kampf der Beamten gegen die Nutznießer des Elends wider. Eine als „Eheanbahnungsinstitut“ getarnte Schwarzhandelszentrale wurde im September 1945 in der Uhlandstraße 46 in Wilmersdorf ausgehoben. In Rudow tappten professionelle Schwarzschlächter im Mai 1946 in die Falle der Kriminalisten: „Die beiden geschlachteten Ochsen im Gewicht von 10 Zentnern wurden beschlagnahmt und dem Ernährungsamt in Neukölln übergeben.“ Gewichtige Beweismittel, die nicht in der Aktentasche transportiert werden konnten.
Durch eine Großrazzia am 8. Mai 1946 auf dem sogenannten Tauschmarkt Frankfurter Allee, bei der 7.500 Personen, vor allen Dingen Frauen, kontrolliert wurden, konnte eine größere Menge Schwarzhandelsware sichergestellt werden. Ein Schnellgericht wurde neben dem Markplatz unverzüglich eingerichtet, um die Missetäter an Ort und Stelle abzustrafen. Einen Monat darauf ist dieses schon eine ständige Institution: Am 26. Juni 1946 werden 122 Personen festgenommen; 15 werden sofort zu Geldstrafen zwischen 100 und 1.200 Reichsmark abgeurteilt; sechs zu Haftstrafen zwischen zwei Wochen und einem Monat.
Eine Fleischerfrau aus Mariendorf, deren Schlächterei im Mai 1946 wegen umfangreicher Schiebereien bereits geschlossen wurde, „besaß sogar die Frechheit, sich beim Bezirksamt Tempelhof und beim Polizeipräsidenten zu beschweren, weil sie sich angeblich nicht mal eine Suppe kochen könne“. Aber die Denunzianten arbeiteten zuverlässig: In Wirklichkeit lebe sie heute noch als „Prasser“, denn letzten Sonntag habe sie „drei große Bleche Kuchen und fünf Torten bester Friedensqualität“ gebacken.
Weil alles knapp war, blühte auch der Betrug. Eine Ärztin aus Charlottenburg handelte, schwarz versteht sich, mit gefälschtem Penicillin. Man beschlagnahmte am 8. Mai 1946 noch 1.000 Ampullen Traubenzucker, die mit dem Etikett Penicillin versehen waren. Sie gab zu, bereits zehn Ampullen über Mittelsmänner an einen russischen Arzt verkauft zu haben – für schlappe 51.000 Reichsmark!
Lebensmittelkartenfälscher hatten Hochkonjunktur. Buchdrucker, Schriftsetzer und andere Typographen wetteiferten um die schönste Fälschung. Die Falsifikate wurden entweder direkt verkauft oder die darauf bezogenen Waren mit Schwarzmarktpreis weiterveräußert. Wie auch immer, ein lohnendes Geschäft. Wer nicht über die notwendigen Kenntnisse verfügte, musste sich die begehrten Karten durch schnöden Diebstahl beschaffen. Ein Einbruch am 3. Juni 1946 in die Kartenstelle III im Bezirk Neukölln brachte fette Beute: 39 Schwerarbeiterkarten, 210 Arbeiterkarten, 7 Kinderkarten, 2 Angestelltenkarten und 70 Kartoffelkarten, dazu noch als Zugabe 20.000 Reichsmark in bar. Die Freude der Einbrecher währte aber nicht lange: Sie wurden kurz nach der Tat verhaftet.
Auch Polizisten waren und sind nur Menschen. Die schwarzen Schafe der Branche führten private Hausdurchsuchungen durch und „beschlagnahmten“ in großen Mengen Lebensmittel und Bargeld – bei einem Friseur in der Kaiser-Friedrich-Straße in Charlottenburg am 20. April 1946 12.000 Reichsmark. Wer nicht so clever war, machte anderweitig dunkle Geschäfte. Am 18. Mai 1946 wurde ein 47jähriger Polizeianwärter verhaftet; bei seiner Festnahme führte er 15 Pfund Käse und 52 englische Zigaretten bei sich. Manchmal war die Schwarzmarktware aber sehr lebhaft und musste zur Räson gebracht werden. In den Morgenstunden des 28. Juni 1947 wurden von den Angehörigen der Bahnpolizei in Neustadt an der Dosse drei Männer festgenommen, die ein von ihnen gestohlenes Schwein mit einem Trommelrevolver erschossen hatten. Einer der Verhafteten war ein Polizist aus Spandau, der somit zweifach wenig Schwein hatte.
Durch den genannten „Tätigkeitsbericht der Polizeiinspektionen“ ist auch das folgende Geschehen überliefert. „… von den Eigentumsdelikten wäre der Raubüberfall in den Nachtmittagsstunden des 29.12.45 von 4 Männern, die z. T. russische Uniform trugen, auf Fahrgäste eines U-Bahnzuges Richtung Alexanderplatz-Neukölln, hervorzuheben. Unter Bedrohung mit der Schusswaffe forderten sie Uhren, Gold und Ringe. Von den Tätern wurde im Zug ein Schuß abgegeben, der einer unbekannt gebliebenen Frau den Hut durchlöcherte. Auf dem U-Bahnhof Neanderstraße [heute Heinrich-Heine-Straße – frs] stiegen die Täter um, bestiegen einen Zug in Richtung Alexanderplatz und setzten ihr Treiben fort. Die Täter konnten nicht ermittelt werden …“
Im Kampf gegen das Verbrechertum fiel der Polizeidiensthund Lappel. Am 19. Juli 1947 gegen 16.30 Uhr wurde er auf einem Streifengang in Blankenfelde vor dem Grundstück Schildower Straße 3 von einem Pkw überfahren. Mord oder Unfall? Die Kripo jedenfalls war sofort am Tatort.