von Wolfgang Kubiczek
Von den russischen Streitkräften insgesamt befinden sich die strategischen Nuklearwaffen im vergleichsweise besten Zustand. Der Anteil moderner bodengestützter Nuklearsysteme sei, so erklärte Wladimir Putin im vergangenen Jahr, inzwischen von 13 auf 25 Prozent gewachsen. Die strategischen Luftstreitkräfte haben seit 2007 ihre regelmäßigen Langstreckenpatrouillenflüge wieder aufgenommen. Priorität haben der Ausbau einer einheitlichen Luft- und Weltraumabwehr und eine asymmetrische Antwort auf die amerikanischen Pläne zur Raketenabwehr durch Stärkung der eigenen Offensivwaffen.
Ein großer Teil der Waffen und Ausrüstungen der Landstreitkräfte ist dagegen veraltet, stammt noch aus sowjetischer Produktion. Besondere Defizite tun sich bei präzisionsgelenkter Munition, modernen Kommando-, Kontroll- und Kommunikationssystemen (C3ISTAR) und der Befähigung von Militärangehörigen zur Bedienung derartiger Geräte auf. Die vor vier Jahren verkündete Militärreform sieht für die Landstreitkräfte vor: Reduzierung der Mannschaftsstärke von 400.000 auf 270.000; Verringerung und Umbau von 203 Divisionen auf 85 Brigaden bei Herstellung vollständiger Einsatzbereitschaft; Abbau der Panzer von 22.000 auf 10.000. Ende 2020 sollen die Landstreitkräfte zu 70 Prozent mit neuen Waffen und Ausrüstungen versorgt sein.
Die Luftstreitkräfte trugen in den 90er Jahren wohl den größten Schaden davon. Die grundlegenden Elemente, die für eine effektive Luftwaffe zumindest erforderlich sind – ausgebildete Piloten und moderne Kampfflugzeuge –, wurden allmählich Mangelware. So kam denn Putin auf der jüngsten Tagung mit den Luftstreitkräften am6. März 2013 zu dem Schluss, dass diese praktisch vollständig neu ausgerüstet werden müssen. Das Programm für die Luftstreitkräfte sieht bis 2020 eine Summe von fünf Billionen Rubel und fast 2.000 neue Flugzeuge und Hubschrauber vor.
Auch die russische Kriegsflotte hatte in den 90er Jahren so gelitten, dass sie faktisch nur noch zwei Funktionen erfüllen konnte: die nuklearstrategische Abschreckung und den Küstenschutz. Obwohl es eine größere Zahl von Kriegsschiffen gibt, sind dies meist veraltete Typen. Erst 2012 beklagte Putin, dass eine unzulässig große Anzahl von Atom-U-Booten nur mit Einschränkungen oder gar nicht genutzt werden kann. Dennoch legt die russische Führung nachdrücklich Wert darauf, wieder als globale Seemacht wahrgenommen zu werden. So haben Schiffe der Kriegsflotte ihre Präsenz in strategischen Gewässern der Weltmeere, darunter im Mittelmeer, wieder aufgenommen und verstärkt. Putin rief zur Wiedergeburt der russischen Hochseeflotten, vor allem im Norden, wo es die Interessen Russland in der Arktis zu wahren gelte, und im Fernen Osten auf.
Nach über vier Jahren seit ihrer Verkündung ist die Kritik an der Militärreform allerdings vielstimmig und fällt teils drastisch aus. Besonders Kreise des Militärs, der Generalität im Ruhestand, bei denen man von guten Kontakten zum aktiven Offizierskorps ausgehen kann, äußern sich in dieser Hinsicht. Generalleutnant a.D. Viktor Sobolew, von 2004 bis 2006 Oberkommandierenden der 58. Russischen Armee im Nordkaukasus, hält dem Tandem Putin-Medwedew vor, die russische Armee zu einer Truppe degradiert zu haben, die nur noch in der Lage sei, militärische Aktionen gegen bewaffnete Banden auf eigenem Territorium oder den GUS-Staaten durchzuführen. Man habe aber nicht nur die Armee zerstört, sondern auch die einheimische Rüstungsindustrie. Und die unter anderem von dem in militärischen Kreisen hochgeachtete Generaloberst a.D. Jurij Bukrejew, der bei seinem Ausscheiden aus der Armee im Jahr 2001 Stellvertreter des Chefs des Generalstabs der Landstreitkräfte war, geforderte Entlassung von Verteidigungsminister Anatolij Serdjukow, der das System der Armee zerstört habe,. hat Putin am 6. November 2012 vorgenommen – wegen Korruptionsvorwürfen.
Kritik an der Grundausrichtung der Militärreform kommt von Experten des Moskauer -Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen (IMEMO) Aleksej Arbatow und Wladimir Dvorkin, beide mit politischer Nähe zur „Jabloko-Partei“, die beklagen, dass die Prioritäten der Militärreform nicht den tatsächlichen Sicherheitsrisiken für Russland entsprächen. Hauptpriorität der russischen Militärpolitik sei die nukleare Abschreckung von USA und NATO aus Gründen des nationalen Prestiges, obwohl die eigentlichen Gefahren von lokalen Konflikten und von der Ostgrenze des Landes ausgingen.
Daneben gibt es eine Vielzahl von Beanstandungen zur rein militärischen Umsetzung der Reform. So sei die Militärreform vor allem in ihrem Hauptziel, in ständiger Einsatzbereitschaft befindliche und mit einer Million Mann ständigem Personal ausgestattete Gesamtstreitkräfte zu sichern, gescheitert. In den Streitkräften fehlten etwa 300.000 Soldaten und Offiziere, unter anderem im Ergebnis der Entlassung von Zehntausenden von Offizieren auf der Ebene Division/Armee. Darunter hätten der Professionalismus und die ständige Einsatzbereitschaft der Streitkräfte gelitten, die neuen Brigaden seien unterbesetzt, in ihnen fehlten 35 bis 50 Prozent der Mannschaften, vor allem Zeitsoldaten (Kontraktniki) und Militärspezialisten. Zur Lösung dieses Problems wurde das Offizierskorps zwischenzeitlich bereits durch Wiedereinstellung von entlassenen Offizieren aufgestockt. Arbatow und Dvorkin schlagen zur Lösung des Mannschaftsproblems vor, auf eine unterbesetzte Millionen-Streitmacht zugunsten einer vollständig auf Kontraktbasis rekrutierten 800.000 Mann-Armee zu verzichten.
Das Staatliche Rüstungsprogramm 2020 wird von Kritikern als unrealistisch bezeichnet, zumal zwanzig Prozent der Mittel in den dunklen Kanälen der Korruption verschwänden. Durch mangelnde Transparenz und unzureichende Kontrolle seitens der Legislative gebe es keine Garantie, dass die gewaltigen Mittel des Rüstungsprogramms zweckdienlich eingesetzt würden. Vor allem aber stellt man die Frage, woher das Geld für das Rüstungsprogramm eigentlich kommen soll, ob dafür Einschränkungen im sozialen und anderen Bereichen des Haushalts vorgesehen seien. Die Rüstungsindustrie befände sich sowohl im Hinblick auf die Produktionsausstattung als auch auf die Fachkräfte in einer schwierigen Situation. Die Einschränkungen bei Forschung und Entwicklung verurteilten Russland dazu, ständig hinter den Weltneuerungen hinterherzulaufen, was letztlich einen wachsenden Abstand zur globalen militär-technischen Entwicklung zur Folge habe. Ein Durcheinander existiere auch bei technischen Wartungsleistungen für die Truppe. Nach Angaben des Generalstabs ist reparierte Militärtechnik im Schnitt nach einem Monat erneut defekt. Allein 34 Prozent des Flugzeugbestandes seien instandsetzungsbedürftig. Die Liste der Beanstandungen ließe sich fortsetzen.
Nachfolger des geschassten Verteidigungsministers Serdjukow wurde Sergej Schojgu, der sich zuvor einen Namen als Chef des russischen Katastrophenschutzes gemacht hatte. Die Hoffnungen einer ganzen Reihe von Militärs, die ganze Reform würde nun rückgängig gemacht, erwiesen sich jedoch als haltlos. Am 27. Februar 2013 verdeutlichte Putin vor dem Kollegium des Verteidigungsministeriums, dass die allgemeine strategische Richtung der Erneuerung der Streitkräfte unverändert fortgeführt werden solle. Einzelne Korrekturen an der Militärreform seien zwar angebracht, aber ein ständiges Hin und Her, die endlose Revision früher gefasster Beschlüsse würde es nicht geben. Im Gegenteil, angesichts der geopolitischen Lage sei schnelles Handeln erforderlich, die Streitkräfte müssten ein prinzipiell neues Niveau bereits in den nächsten drei bis fünf Jahren erreichen.
Insgesamt wird deutlich, dass der mit der Reform eingeleitete Erneuerungsprozess in den russischen Streitkräften erst begonnen hat, weitere Jahre und Mittel werden notwendig sein, ohne dass die erhoffte alte Stärke einer militärischen Großmacht in überschaubarer Zukunft erreicht werden könnte. Und wie die gewaltigen Rüstungsausgaben mit einer ausgewogenen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Landes in Übereinstimmung zu bringen wären, das ist ein Geheimnis, dessen Lösung allenfalls Putin allein kennt.
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