von Stephan Wohanka
Der Krieg in Mali hat wieder den internationalen islamistischen Terror ins Blickfeld gerückt. Nach verbreiteter Lesart sind dessen Ursachen ganz einfach auszumachen. Der Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus sagt es so: „Nehmen Sie die Islamisten: Sie geben den Armen etwas zu essen, außerdem Waffen und eine Ideologie. Es gibt gar keinen Zweifel, dass Armut die Brutstätte von Terrorismus ist.“ Armut – also Unterernährung, Unterdrückung, Ausbeutung; wussten wir ja!
Yunus sagt aber auch, dass „die Islamisten den Armen Waffen und eine Ideologie geben.“ Anders gesagt – die Islamisten rüsten die Armen aus und schicken sie vor! Dieses, erst einmal einfache Bild wird, entsprechend ausgemalt, der Sache gerecht! Nur aus der Armut ist dieser Terror nicht hinreichend zu erklären, der „Ideologie“ kommt eine entscheidende Rolle zu! Der einflussreiche fundamentalistische Muslimbruder Hassan al-Turabi legt das Fundament dafür: Das Trauma über den Verlust vormaliger Hegemonie islamisch geprägter (früh)mittelalterlicher Staaten; deren Untergang noch eine offene Wunde ist: „Wir waren eine entwickelte Gesellschaft, modern, mit Millionenstädten, Hunderten von Universitäten, mit Banken und freiem Geld, mit Kanalisation und Wasserleitungen und Kultur und Toleranz. … Ich habe die Reste gesehen, die Plätze, die Moscheen, und sie waren besser gebaut und schöner als die Paläste, die heute gebaut werden. Aber ihr habt es kaputtgemacht. ‚Wir?’ Ja, ihr Europäer, ihr habt es zerschmettert. ‚Wann?’ Vierzehnhundertzweiundneunzig. In Spanien.“ Da wurde er unter allem Lächeln plötzlich sichtbar: der rote Faden der Kränkungen, der von Generation zu Generation reicht, die lange Geschichte des Machtverlusts, des Niedergangs, der Fremdherrschaft, der Ausbeutung, der Missachtung.
Und al-Turabi fährt fort: „Diese Gottlosigkeit in Europa, der Rassismus in der Metro, die Kommerzialisierung der Erotik, die den Frauen die Kontrolle über ihre Körper raubt, all das hat mir meine eigenen Werte gezeigt. Und dann … habe ich gelesen. Tausend Bücher. Alles: Geschichte, Religion, Politik, Kunst. Unsere und Ihre. … Wir kennen Ihre Sprache, Sie unsere nicht. Wir kennen Ihre Geschichte und Ihre Geografie; Sie wissen nichts über uns… Säkular, säkular… das ist eure fixe Idee. Ihr wollt Gott in die Kirche einsperren. Ist er nicht der Allgegenwärtige, Allmächtige? Ist das nicht die Idee der Christen und Juden auch? Und Ihr wollt ihn aus den Straßen, den Märkten, den Parlamenten heraushalten? Wie kann das gehen?“
Wissen Muslime mehr über die westliche Kultur als wir über die ihrige? Wie sollte man dieser Dämonisierung der abendländischen Kultur, die quasi zu einer „Zivilisation der Gotteslästerung“ (Marc Jongen) geworden sei, begegnen, was darauf entgegnen? Nicht nur das Gottlose gebiert heute schlimmste Verbrechen, sondern diese werden auch vollbracht, weil es in den Augen seiner Gläubigen einen Gott gibt und er sie (angeblich) will; sie werden in seinem Namen vollbracht! Dazu kommt es, wenn man sich „gottgleich“ ein Urteil über (andere) Kulturen anmaßt, sie dämonisiert!
Die Quintessenz von al-Turabis Suada liegt in der Umdeutung eigener, zwar nur noch historischer Stärke – und nur in scheinbarem Widerspruch dazu – in eine existenzielle Bedrohung durch eine heutige Welt von Feinden. Hier geht es aus Sicht gewisser Vertreter islamistischer Eliten um eine kulturelle Auseinandersetzung mit dem Westen. Bestätigung finden diese Thesen durch Pervez Hoodbhoy, Nuklearphysiker an der Quaid-i-Azam-Universität in Islamabad: „Dadurch (durch Das-sich-Abgrenzen – St. W.) wird in aller Deutlichkeit gezeigt: Meine Identität ist islamisch. Diese Identität ist eng verknüpft mit dem Gefühl, ein Opfer der Geschichte zu sein. Tief versteckt empfinden Muslime, gescheitert zu sein. Diese Mischung von Befindlichkeiten flößt mir Angst ein, denn sie führt zu einem Verhalten, das sehr ungesund ist.“ Auf eine weitere Frage: „Sie betrachten muslimische Gesellschaften als kollektiv gescheitert. Wie meinen Sie das?“ antwortet Hoodbhoy: „Es gibt rund 1,5 Milliarden Muslime in der ganzen Welt – aber sie können in keinem Bereich eine substantielle Errungenschaft vorweisen“.
Der dschihadistische Terror hat also in Hasstiraden eines al-Turabi und anderer gegen die westliche Moderne seine ideellen Wurzeln. Es geht um Kränkungen, Traumatisierungen, sozial-politischen Stillstand mit dem diffusen Gefühl einer kulturellen Unterlegenheit.
Das Stichwort für diesen Terror ist immer noch „nine eleven“. Im Kontext eines Jahrestages war zu lesen, dass „wir nicht Personen analysieren müssen, sondern Strukturen“ und „wichtiger als ihr Geisteszustand (der der Terroristen – St. W.) aber ist die Frage, warum sie so viel Zustimmung erfahren“ (Karl Homann). Die Zustimmung, die der Terrorismus von den Armen in der islamischen Welt erfährt, hat schon mit „Strukturen“ zu tun; mit Armut, dem ökonomischen Zu-Kurz-Kommen im eigenen Land, mit dessen Abhängigkeit von einer globalisierten, am share-holder-value orientierten Weltwirtschaft. Aber Zustimmung ist noch kein Terrorismus! Hinzukommen müssen geistige Brandstifter! Deren Motiv ist Hass; Hass auf die westliche Kultur sowie die abgrundtiefe Verachtung ihrer eigenen „schlappen“ Glaubensbrüder. Hass ist etwas sehr Persönliches, man muss, entgegen Homann schon „Personen analysieren“ einschließlich „ihres Geisteszustandes“. Ich denke, das eingangs zitierte Beispiel belegt das eindrucksvoll!
Seine blutige Vollendung findet das Ganze dann, wenn die Indoktrinierung „die Massen ergriffen hat“ – also obiger Hass über Koranschulen und ähnliche Institutionen zur Massenideologie wird, auf deren Grundlage dann die „Kämpfer“ rekrutiert werden können. Das Leben dieser Selbstmordattentäter, die sich und Unschuldige in die Luft sprengen, ist häufig von Armut, Ausweglosigkeit und Perspektivenmangel geprägt; jedoch nicht immer: Die, die Flugzeuge in das New Yorker World-Trade-Center steuerten, waren als Söhne wohlhabender Eltern, die sich ein Studium im später verhassten „Westen“ leisten konnten, keineswegs „arm“. Sie waren verblendet.
Mindestens gleichrangig zum Waffeneinsatz, zur militärischen Komponente kommt es beim islamistischen Terror darauf an, öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Er ist auch eine Kommunikationsstrategie. Es wird via Massenmedien auf Köpfe gezielt. (Welche Rolle dabei die westlichen Massenmedien spielen – das zu untersuchen wäre auch eine dankbare Aufgabe!) Die Terroristen streben nach Veränderungen der bestehenden politischen Verhältnisse dadurch, dass sie den Menschen Angst machen. Schon die Androhung eines Anschlages kann ausreichen, entsprechende öffentliche Wirkungen und (politische) Reaktionen auszulösen. Es handelt sich um ein Zusammenspiel von Verbrechen und politischer Einflussnahme; und das ist Terrorismus! Die religiöse Phraseologie darf nicht darüber hinwegtäuschen – es geht letztlich um ein politisches Ziel: Eine Theokratie, einen „Gottesstaat“ – die Errichtung einer Ordnung in Staat und Gesellschaft, die der Scharia folgt. Dann wird – wie die Beispiele, auch das Malis, zeigen – aufgeräumt mit mehr als nur der „westlichen“ Dekadenz. Musik und Tanz werden verboten, Mädchen und Frauen werden massiv benachteiligt und entrechtet, Elemente der (politischen) Gewaltenteilung und Ansätze der „bürgerlichen“ Demokratie werden suspendiert und so weiter und so fort. Die Terroristen sind ihrem Selbstverständnis zufolge „Gotteskrieger“. Deren gottgefälliges Werk es ist, möglichst viele „Ungläubige“ zu vernichten. Eine „Märtyrerideologie“ garniert das Ganze: „Der Baum des Islam kann nur wachsen, wenn er ständig mit dem Blut der Märtyrer gedüngt wird“ (nach Christoph Reuter).
Wie Jürgen Todenhöfer unlängst feststellte, wimmele es „in der muslimischen Welt inzwischen von nationalen Terroristen und ausländischen ‚Wander-Dschihadisten’. Finanziert werden sie vor allem durch private Organisationen in Saudi-Arabien“. Und nicht nur Saudi-Arabiens. Dieses Geld wäre durchaus auch zur Armutsbekämpfung in der (muslimischen) Welt zu mobilisieren! Wie Todenhöfer weiter schreibt, wollen diese Geldgeber „ihren wahhabitisch-salafistischen Radikal-Islam verbreiten, dem weltweit nur zwei Prozent der Muslime anhängen.“ Wollen also die Probleme noch verschärfen! Auch hier wird wiederum deutlich, dass „Armut“ allein nichts erklärt; es geht auch hier um Hintermänner, die ihre ganz eigene Agenda haben! Dass auch kriminelle Elemente – wie in Mali beispielsweise – eine Rolle spielen, kann hier nur erwähnt werden.
Ich stimme Todenhöfer nicht zu, wenn er schreibt: „Die seit Jahrhunderten andauernde aggressive Politik des Westens gegenüber der muslimischen Welt ist schließlich Hauptursache dieser Seuche“ des Terrorismus. Was heißt „seit Jahrhunderten“? Sind damit noch die Kreuzzüge gemeint? Dass dieses Argument nicht neu ist nicht, offenbarte im Zusammenhang mit dem 11. September 2001 eine Geisteshaltung, die seinerzeit einige Vertreter der bundesdeutschen Intelligenzija (Peter Sloterdijk, Günter Grass und andere) einte. Unter dem (wohlfeilen) Beifall eines Teils der Bevölkerung meinten deren Repräsentanten, die „Verantwortung“, ja die „Schuld“ für den 11. September liege primär in der westlichen Kultur. So ist Sloterdijk der Meinung, „dass die westliche Demokratie jene Lebensform ist, in der man für seine Feinde verantwortlich ist.“ Wirklich? In meinem Verständnis eine mehr als verkehrte Welt! Wenn schon die pure Existenz des „Westens“ von Vertretern ebendieses Westens quasi als Angriff auf die übrige Welt gewertet wird, dann öffnet man der These, Terror sei die legitime Antwort auf ebendiesen „Westen“, auf die Globalisierung, auf die Armut und so weiter, Tor und Tür! Wenn das so wäre, warum sind dann die Ärmsten der Armen, Länder wie Bangladesch und Äthiopien frei von „homegrown terrorism“? Es müssen zur Armut noch Hass, Verblendung und Fundamentalismus hinzukommen! Der Einfluss des „Westens“ auf die Welt und namentlich die islamische kann nicht als Legitimierung von Terrorismus dienen; wo wollte man da Grenzen ziehen? Können Kulturen überhaupt „schuldig“ sein? Können sie für ihre Wirkungen auf andere Kulturen verantwortlich gemacht werden? Das Verhältnis von Kulturen zueinander, ihre Wirkungen aufeinander in der einen Welt ist ein schwieriges, komplexes Thema – was ein neues Thema wäre…
Dass heute der Terror vor allem Menschen in der islamischen Welt bedroht, wird hier nur festgestellt; auch dieses wäre ein etwas anderes Thema.
Schlagwörter: Gewalt, Islamismus, Stephan Wohanka, Terror