16. Jahrgang | Nummer 6 | 18. März 2013

Querbeet (XXII)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein Marineoffizier, ein Drachentöter, authentische Seelenkühe, ein frech stöhnender Taugenichts sowie ein Hacks gegen Brecht.

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Paris, Grande Opera, 28. April 1865: posthume Uraufführung von Giacomo Meyerbeers „L‘Africaine“. Stündlich gehen Telegramme aus dem Parkett, wie die Chose läuft. Nach der Vorstellung kommen ein Trauermarsch für den Komponisten, der das Jahr zuvor verstorben war, und Enthüllung seiner Büste im Foyer. Napoleon III. und Kaiserin Eugenie sind anwesend, mit ihnen die halbe Regierung in den Logen. Bis zum Ersten Weltkrieg folgen 500 Aufführungen, „Die Afrikanerin“ ist das damals meist gespielte Stück. Ein schier märchenhafter Erfolg dieser exotischen Dreiecksgeschichte zwischen dem berühmten Marineoffizier Vasco de Gama, seiner weißen Verlobten Ines und seiner Sklavin Selika, die keine Afrikanerin ist und auch keine Sklavin, sondern eine indische Königin.
Der Titel ist also Quatsch, was schon Meyerbeer nervte am Script des Librettisten Scribe. Beide bastelten an der Oper herum, die unfertig blieb bis zum Tod der beiden. Die Uraufführung war denn auch ein wüster, aber enorm erfolgreicher Zusammenschnitt aus der Bearbeiter-Werkstatt. Erst jetzt, nach 148 Jahren, kam an der bemerkenswert leistungsfähigen und für spannende Novitäten berühmten Oper Chemnitz die vollständige, kritisch revidierte Fassung des opulenten, größtenteils bislang noch ungespielten Materials nach der Ausgabe aus dem Verlag Ricordi zur sozusagen echten Uraufführung. Nunmehr unter dem Titel „Vasco de Gama“.
Eine Weltsensation, die den Komponisten endlich wieder ins ihm gebührende Licht setzt. Meyerbeer war ja nicht nur Superstar, er prägte obendrein Kollegen nach ihm. Berlioz, Verdi, Wagner, sie alle haben viel bei ihm gelernt – bis hin zum Notenklau. Passt also prima zum Verdi-Wagner-Jahr. Bleibt zu bemerken, dass die internationale Sängerschar zu Chemnitz so großartig ist wie die Robert-Schumann-Philharmonie mit ihrem Dirigenten Frank Beermann. Regie und Bühnenbild üben vornehme Zurückhaltung; klare Personenführung, klare Erzählweise im artifiziell-minimalistischen Ambiente. Fünf Stunden richtig große Oper. Um einen hier einst gängigen Begriff wiederzubeleben: Weltniveau am Erzgebirgsrand.

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Wie es zufällig so passt an einem Wochenende Anfang März: Mit der Bahn sind es 90 Minuten von Chemnitz bis Halle. Und im dortigen Opernhaus schloss sich der „Ring“ des vor Futterneid und Antisemitismus schier platzenden Meyerbeer-Hassers Richard Wagner: Sechs Stunden „Götterdämmerung“ (als Koproduktion mit dem Theater im Pfalzbau Ludwigshafen).
Man muss nicht die sauteure, gedankenlose, mit Computerschnickschnack nur scheinbar moderne Hauptstadt-„Götterdämmerung“ im parfürmierten Edel-Design des flämischen, als Regisseur verkleideten Schickimicki-Performers Guy Cassiers kennen (Koproduktion Staatsoper/Scala Mailand) und darin – trotz Daniel Baranboim – in Langeweile dahindämmern. Es geht deutlich preiswerter in Halle. Und – im Vergleich zu Berlin – unter Hansgünther Heymes Regie ideenreich, unterhaltsam, spannend. Obendrein steht man im Sängerischen den Stars an der Spree nicht wirklich nach. Für den Helden Siegfried wagen wir gar die Prognose: Der Tenor Andreas Schager steht an der Schwelle zur Spitzenkarriere. Das weltweit Sensationelle und immerzu Wundersame der Sache ist eigentlich, dass hierzulande zwei monumentale Spitzenwerke der musikdramatischen Hochkultur auf einen Ruck qualitätsvoll auch in der Provinz zu finden sind, also weitab von den super subventionierten metropolitanen Musik-Tempeln. Schönes reiches (Musik-)Deutschland!

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Im Märzen kommt nach dem „Frauentag“ der „Hacksday“, zumindest auf der „Habbema“ geheißenen Brettelbühne der Peter-Hacks-Gesellschaft zu Berlin: Ein Happening mit Musik, Text, Trallala und Barbetrieb am 21. März. Da nämlich hat der aristokratische Walter-Ulbricht-und-Goethe-Fan, der DDR-Verteidiger und rasiermesserscharf denkende Großschriftsteller von weltumspannendem Ausmaß Peter Hacks seinen 85. Geburtstag. Leider verstarb er früh – dafür passend zu Goethes 254. Geburtstag am 28. August anno 2003.
Pointenstarkes P.-H.-Amüsement gibt’s allerdings auch per Buch im Nachlassverwalter Verlag Eulenspiegel: „Peter Hacks schreibt an Mamama. Der Familienbriefwechsel 1945-1999“. Kleine literaturhistorische Sotisse gefällig über die SED-Parteisekretärin des Berliner Ensembles und eigentliche Autorin der „Dreigroschenoper“? „Elisabeth Hauptmann ist eine sehr freundliche und sehr intelligente schielende kleine Dame, welche eigentlich die längste Zeit seines Lebens Bert Brechts Freundin, Helferin und Sekretärin war. Er hat ja immer Weiber gehabt, die für ihn dichteten, aber sie hat das meiste gemacht.“

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„Oh Boy“ stöhnt so genervt wie amüsiert das Publikum im melancholischen Zartbitter-Berlin-Film von Jan Ole Gerstner über dessen Antihelden: Einen sympathisch unverschämten, frech dauerstudentischen Taugenichts (Tom Schilling). „Oh Boy“, so der Filmtitel, erzählt lakonisch, gern auch sarkastisch und mit feinem Kopfschütteln einiges über Jugendliche heute: Der hübsche, auf den zweiten Blick ziemlich durchtriebene, dabei nicht unpoetische Knabe weiß nicht recht wohin mit sich, fragt, was wiederum sympathisch ist, manch Triftiges mit keck philosophischem Unterton, ist maulfaul, trödelt herum, pocht frech auf Ansprüche, putzt seine Bude nicht, tut überhaupt gern bloß das Allernötigste ohne einen Gedanken an Zukunft und geht uns mit seinem abgründig unschuldigen Blick als poetischer Träumer doch irgendwie ans Herz.

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René Pollesch ist Miterfinder und Propagandist des vornehmlich hierzulande in Mode gekommenen so genannten postdramatischen Theaters – kein Stück, kein Plot, keine Figuren, keine Psychologie, kein Drama. Dafür der thematische Zusammenbau von dokumentierten „Brocken der Wirklichkeit“. Damit schlug der Absolvent des avantgardistisch dauer-erregten Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft zu Gießen heftig ein. Zuerst in der Volksbühne Berlin mit aberwitzig zerschnippelten Aufbereitungen schwer lesbarer philosophisch-soziologischer Theorie-Texte berühmt-gesellschaftskritischer Denker. So hauten seine sagenhaft tollen Hauptstadt-Schauspieler ein grotesk oberschlaues, Soaps, Dokus oder Talkshows vereinnahmendes Polit-Diskurstheater auf die Bretter – im rasenden Schnellsprech, dem speziellen Markenzeichen.
Die Theaterwelt war hingerissen von der Novität, die der begeisterte Antikapitalist Pollesch inzwischen inflationär allüberall und in vornehmlich größten Häusern vervielfacht und zu allerhand Geld gemacht hat. Nun ist sie etwas verkommen zum ausgeleierten Redeschwall-Betrieb („Neues vom Dauerzustand“).
Deshalb liefert unser oberster Postdramatiker zur kompakten Selbstverewigung ein 92-Seiten-Buch mit saftigen Ansichten zum Theater unter dem schmackhaften Titel „Der Schnittchenkauf“ (Galerie Buchholz). Zitat gefällig? „Das sind richtige Seelenfotzen, diese Schauspieler, die in jede Dunkelheit nur Seele hineininterpretieren; authentische Seelenkühe…“ So etwa.
Dazu passend die Klage des Rektors einer dem Gießener Institut ziemlich entgegen gesetzten Theaterschule. Wolfgang Engler von der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin, der berühmtesten Kaderschmiede deutscher Spiel-Stars: „Das Rollenspiel ist nicht mehr schick!“ Das heißt: Grassierende Vernachlässigung der Figuren, ihrer Psyche, Konflikte, Dramen. Der Professor plädiert ganz altmodisch wenigstens für ein gewisses Quantum Seele; das müsse unbedingt sein. – Jaaa! Und nicht nur bis zum nächsten Querbeet.