von Sem Pflaumenfeld
Jeder Text ist die Übersetzung von Gedanken aus dem Kopf der Reisenden auf ein anderes Medium. Im vorliegenden Fall ist dies eine Seite online, nicht mehr das Papier, auf dem ich schreibe, wenn ich unterwegs bin. Ich gebe zu, dass ich eine traditionelle Reiseschriftstellerin bin, die noch Tagebücher mit sich führt. Einige fallen bereits auseinander, nicht weil sie so alt sind, sondern weil sie viel enthalten müssen. Sie sind schwer geworden, weil ich in ihnen alles sammle, was ich bemerkenswert finde. Jedoch verändern sich meine Erinnerungen: Der emotionale Abstand wird mit dem geographischen größer. Wenn ich jemals verstanden haben sollte, was in Japan tagtäglich passiert, schwindet nun diese Gewissheit. So sehe ich die Angstkulisse vor Nordkorea und mache mir Sorgen.
Die gefühlte Bedrohung vor nordkoreanischen Raketenangriffen wird von der Regierung benutzt, auch wenn weder die Medien noch die Bevölkerung sich davon sonderlich beeindrucken lassen. Es handelt sich dabei nicht um eine Bedrohung, die im Alltag wirklich präsent wäre, sondern eher um ein Gefühl, das abgerufen werden kann. Der Ruf nach Absicherung wird immer wieder einmal laut, doch noch ist er nicht stark genug. Es sind Verblendungen, um die Bevölkerung als Masse von den wirtschaftlichen Herausforderungen abzulenken. Die Menschen sollen sich auf ihr eigenes Fortkommen konzentrieren, und sie tun es. Fukushima kann zum nationalen Symbol werden, dessen erinnert wird, aber die wirtschaftliche Entwicklung braucht Atomenergie. Das Thema eigener Atomwaffen kann aufgrund der Symbole Hiroshima und Nagasaki nicht einfach auf den Tisch gepackt werden, aber das Phantom Nordkorea bereitet eine unbestimmte Angst und den Boden für eine veränderte Diskussion. Pläne, die Verfassung in Hinblick auf eine verstärkte militärische Eigenständigkeit von den USA zu ändern, haben die Menschen nicht davon abgehalten, die Liberaldemokratische Partei im Dezember zu wählen. Damit will ich nicht sagen, dass Menschen in Japan unpolitischer wären als in dem Land, in dem ich lebe. Jedoch erinnere ich mich, dass mich der Unwillen, die eigenen gesellschaftlichen Veränderungen zu thematisieren, im letzten November anstrengte und emotional lähmte. Dabei muss ich natürlich immer eingestehen, dass ich als Außenstehende gut reden konnte, wenn ich mich darüber aufregte, dass Menschen ihre Unterhauswahlen ignorierten. In einem arrogant kolonialen Habitus wirkte ich wie eine moralische Instanz, die Japans politisches Klima besser zu verstehen meinte. Denn aus der Sicherheit der Distanz von mehreren tausend Kilometern ist es leicht, über das Haar in der Suppe von anderen zu befinden. Dass wir verteidigen, womit wir selbst tagtäglich leben müssen, auch wenn wir es nicht mögen, kenne ich auch von mir.
Es ist so wunderbar einfach, über den Alltagsrassismus in Japan zu schimpfen, da einige Menschen in Deutschland zu glauben scheinen, dass es keinen Rassismus hier mehr gibt. ‚Wir‘ sind dabei ebenso „rassenlos“, wie sich viele japanische Menschen als ethnisch homogen begreifen. Die Diskussionen in den letzten Wochen über die diskriminierende Sprache in Kinderbüchern und der unsägliche Auftritt von Dennis Schenk in black face in der ARD, der ‚unsere Kultur‘ verteidigen wollte, zeigen uns unser hässliches Gesicht. Auch ist es einfach, darüber zu lästern, dass Japan auf Platz 101 von 135 Ländern im internationalen Vergleich auftaucht, wenn es um die formale Gleichstellung der Geschlechter geht. Denn wir haben eine Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsgesetzgebung. Unglücklicherweise für unsere Selbstvergewisserung verfügt Japan ebenso über eine solche, was eben nicht bedeutet, dass es keinen Alltagssexismus gibt. Und in diesem unterscheiden wir uns nicht.
Am 14. Februar war Valentinstag. In Japan wird er wie Weihnachten als Fest der Paare gefeiert, wobei immer gemischtgeschlechtliche gemeint sind. Denn im Februar beschenken Frauen ihre Partner oder diejenigen, die es werden sollen, mit selbstgemachter Schokolade. Dafür gibt es eigens schon Wochen vorher fantasievolle Mischungen mit Anleitungen. Einen Monat später revanchieren sich die Herren zum White Day mit weißer Schokolade. Dieser Tag wurde der Legende nach 1977 von einem Konditor eingeführt, um Süßwaren auch für Männer interessant zu machen und an die Kundinnen zu bringen. Mit honmei choco („Schokolade für den/die Liebste/n“) für Beziehungen privater und mit giri choco („Pflichtschokolade“) für solche verpflichtender Natur wird dann das gefeiert, was am 8. März vergessen wurde. In Japan gibt es den Internationalen Frauentag nicht, in Deutschland nur unter Menschen, denen die Gleichstellung von Frauen jenseits der Mutterrolle noch wichtig ist. Für alle anderen gibt es den Muttertag im Mai, drei Tage nach dem Tag der Befreiung. In diesem Jahr hatten sich jedoch von den USA ausgehend Frauen auf der ganzen Welt schon den 14. Februar als wahren Feiertag ausgesucht. Mit der Aktion One Billion Rising („Eine Milliarde erheben sich“) machten Frauen (und Männer) sich tanzend auf öffentlichen Plätzen sichtbar und zeigten, was die kitschige Überhöhung romantischer Zweierbeziehungen ebenso ist, nämlich die gefährliche Verklärung des Raumes, in welchem Frauen am häufigsten Gewalt ausgesetzt sind.
Ich bin immer wieder gewarnt worden, dass ich mich als Alleinreisende in Gefahr begebe. Dabei passierte mir in Japan bisher recht wenig. Während in den letzten zwei Wochen auf dem S-Bahn-Ring versucht wurde, meinen Rucksack zu öffnen, ist mir in Japan auf meinen einsamen Reisen noch nichts geschehen. Das bedeutet nicht, dass nicht auch japanische Männer glauben würden, mir als Frau gegenüber nicht übergriffig werden zu dürfen. Die sexuelle Gewalt arbeitet aber subtiler auf der Ebene der Sprache und der Herabwürdigung der Dinge, die ich sage und tue. Ich werde als blonde Frau eines bestimmten Alters jenseits meiner Körperlichkeit nicht wahrgenommen. Mein Aussehen wird kommentiert, ich werde so lange zugelabert, bis ich deutlich mache, dass ich genug habe. Meist muss ich dann vorgeben, dass ich der höflicheren Formen nicht mächtig bin. Ich habe mir angewöhnt, in gewissen Situationen, die mich als Ausländerin und Frau thematisieren, kein Japanisch mehr zu können und durch den falschen Gebrauch von Höflichkeitsformeln mein Gegenüber bewusst vor den Kopf zu stoßen. Ich habe jedoch noch keinen Weg gefunden, direkt zu sagen, dass ich von Männern nicht über Deutschland aufgeklärt, wegen meiner körperlichen Vorzüge bewundert und auch nicht über die „gefährlichen“ Straßen japanischer Großstädte geleitet werden möchte. Die japanische Mafia stellt für mich dabei keine Gefahr dar, auch wenn vor jener gern gewarnt wird. Denn wenn ich mich wie alle anderen Frauen brav benehme und nicht in die Welt der Eskortservices und Soaplands einsteige, bewahren die japanischen Gangster auch meine „Ehre“. Dieser mehr als zweifelhafte Service und die gefährliche Trennung in gute Ehefrauen und böse Huren beschützt Frauen auf der Straße. Die steigende Mordrate ist auch in Japan – wie ich bereits einmal schrieb – im Bereich der persönlichen Beziehungen zu suchen. Denn von der Serienmörderin im letzten Herbst abgesehen, werden Frauen und Männer von ihren Lebens- oder Geschäftspartnern getötet.
Schlagwörter: Atomenergie, Japan, Nordkorea, Sem Pflaumenfeld, Sexismus